berliner szenen: Entendame mit zehn Jungen
Seit Wochen war sie heiser, das Volumen ihrer Stimme deutlich reduziert und eingeschränkt auf einen bestimmten mittelhohen, mittellauten Ton, der, wenn sie ihn überzog, in ein Krächzen oder in einen stummes Hauchen kippte. Sie überflog ihre sorgfältig gepflegte Berliner Ärzte-Freunde-Liste und blieb bei ihrem alten Freund Johannes hängen, einem hübschen, sportlich-zähen Kerl, aus alten Tagen, mit dem sie früher auf Technopartys gewesen war.
Johannes war inzwischen HNO-Oberarzt in einer Klinik auf dem Land geworden und pendelte früh morgens hinaus und spät abends zurück. Sie rief ihn an und verabredete sich mit ihm in ein paar Tagen. Sie würde den Zug nehmen, um sich von ihm untersuchen zu lassen. Der Tag war gekommen. Die Klinik war riesig, blitzsauber und leer. Schnell fand sie ihren Bekannten, der ihr, gemeinsam mit einem vor wenigen Monaten geflohenen syrischen Kollegen, mehrere Typen dünner Stahlstangen, an denen kleine Lichter und Kameras befestigt waren, in den Hals schob. Nachdem bald feststand, dass Kathrin keinen Tumor hatte, denn dessen wollte sich der befreundete Arzt sicher sein, begannen die beiden Ärzte, sich gegenseitig mit der anscheinend selten benutzten Gerätschaft zu untersuchen.
Als der Eifer abgeflaut war und andere Patienten mit ihrer Behandlung an der Reihe waren, fuhren Kathrin und Johannes zu dessen Datsche am Scharmützelsee, um eine Fischsuppe zu kochen. Eine Entendame mit ihren zehn Jungen gesellte sich zu den beiden auf den Steg, der weit in den See ragte. Die Sonne ging über dem See in tief rosafarbenem Licht unter. Ein wenig Eile war geboten, da Kathrin den letzten Zug nach Berlin erreichen wollte. Sie schwor sich, Johannes öfters zu besuchen, auch wenn sie dafür Beschwerden vortäuschen müsste.
Gabriel v. Loebell-Herberstein
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