berliner szenen: Die Spinne wartete weiter
Eines Morgens war das Netz da. Aufgespannt in der rechten unteren Ecke eines Fensters, durch das die Morgensonne fällt, und sicher nicht das schönste, aber auf eine Art und Weise perfekt, wie auch Wassertropfen perfekt sind oder Blütenblätter oder eben Spinnennetze.
Die Spinne saß nicht in der Mitte des Netzes, sondern ein paar Zentimeter darüber. Fingernagelgroß, schwarz, fast rund, die Beine eingefahren. Wartete. Das Sonnenlicht fing sich in den Fäden und ließ das Netz glitzern, silber, weiß, fast durchsichtig, die Farben änderten sich, je nachdem, ob gerade ein Luftzug durch das Fenster fiel und sich die Fäden bewegten. Die Spinne rührte sich nicht von ihrem Posten.
Draußen, vor dem Fenster, war einiges an potenzieller Beute. Mücken in der Dämmerung, diverse gestreifte Tiere von Wespen bis Schwebfliegen tagsüber, Nachtfalter aller Größenordnungen in der Dunkelheit. Aus Morgen wurde Mittag, die Strahlen des Sonnenlichts wanderten vom Fenster weg auf die Fassade, von dort auf die Straße. Die Spinne wartete. Von draußen flog eine Fliege durch das geöffnete Fenster, irrte eine Weile im Raum herum, drehte ihre Kreise unter einer Deckenlampe, setzte sich probeweise zwischen die Krümel auf einen Tisch, flog wieder hinaus. Die Spinne wartete. Zwei Staubflusen und ein Haar verfingen sich im Netz. Ein starker Windstoß brachte es zum Vibrieren, die Fäden hielten.
Die Wespen gingen schlafen, die Mücken wurden wach, versuchten, durch das nun geschlossene Fenster in die Wohnung zu kommen, schafften es nicht, und die Spinne wartete weiter. Die Nacht, noch einen Tag, noch eine Nacht. Und dann, am nächsten Morgen, war das Netz verschwunden. Nicht zerstört oder in Fetzen hängend, sondern einfach nicht mehr da, als wäre es nie dort gewesen. Die Spinne war weg. Svenja Bergt
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