berliner szenen: Die Flugbahn der Fliege
Ich war mal wieder planlos in Mitte unterwegs. Ich folgte meinen Hungergefühlen und kehrte irgendwo ein. Ein neuer Koreaner. Ich grüßte in Richtung des Tresens und setzte mich an die Tischreihe am Schaufenster neben eine junge Asiatin, die mich nicht beachtete. Als ihr Essen kam, begann sie gleichzeitig, zu kauen und Musik zu hören. Früher galt es als cool, beim Essen zu rauchen. Nicht vor, nicht danach, sondern während des Essens. Heute war es cool, beim Koreaner mit Ohrstöpseln zu sitzen. Ich sah von ihr ab und beobachtete eine Fliege.
Die Fliege versuchte, sich in den Dämpfen der offenen Küche zu orientieren. Sie zog eine lang gezogene, recht erratische Flugbahn, bis sie in den hinteren Räumen verschwand. Ich wollte gerade meine Bestellung aufgeben, 24 B, da rief Emma an. Sie vermutete mich in der Zeitungskantine. Die Hintergrundgeräusche, das Scheppern von Keramik, die Kaugeräusche. Sie stellte sich meinen Sitzplatz vor. Die Aussicht, die ich hatte. Die städtische Straße in der Nähe des Checkpoint Charlie. Aber ich saß ganz woanders, bei diesem Szenekoreaner in einer kleinen Nebenstraße in Mitte. Und redete über mein angekommenes Bibimbap hinweg, in dem ich mit zwei Wegwerfstäbchen herumzustochern begann.
Die Asiatin neben mir stellte ich mir als Mitarbeiterin des chinesischen Geheimdienstes vor, die sich zur Tarnung beim Koreaner aufhielt. Sie trug eine runde Brille mit Goldrand und flirtete auf die nachlässige Art mit dem Deliveroo-Fahrer, der neben uns vor seinem offenen Ruckkasten (einen Sack kann man das nicht nennen) kauerte. Ich versuchte mir ein Bild von Emma zu machen. Emma im Lehrerzimmer, mit Blick auf das Wimmelbild eines Schulhofs. Stellte sie sich vor, dass ich allein da saß? Oder nahm sie das selbstredend an? War es das denn: selbstredend? René Hamann
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