piwik no script img

berlin viralAuszeit vom Amüsierzwang

Die Kolumne, die ich eigentlich schreiben wollte, stand schon in der taz. Uli Hannemann hat sich in dem Text „Muss ich nicht haben“ dazu geäußert, wie schön ruhig es war während der Pandemie und dass jetzt der „Amüsierzwang wieder losgeht“. Wir kennen uns nicht persönlich, Uli Hannemann und ich. Aber ich fühle jeden einzelnen seiner Sätze, wie man neudeutsch so sagt.

Es war ein seltsam entspanntes Gefühl in den letzten 15 Monaten. Gleich im letzten März ging das los, als es plötzlich deutlich weniger Flugverkehr über unserem Haus gab. Wir lebten damals in der Einflugschneise von Berlin-Tegel. Im November stellte der Flughafen ja seinen Betrieb endgültig ein. Aber schon lange vorher wurde es deutlich ruhiger bei uns zu Hause. Morgens werden wir jetzt von Vogelgezwitscher wach und nicht mehr von dröhnenden Flugzeugen.

Im Sommer ging es weiter. Musste man früher an der Freibadkasse Schlange stehen und konnte selbst im Schwimmerbecken nie sicher sein, ob nicht von der Seite plötzlich irgendwelche Teenager auf einen drauffielen („Ey Digga, was schubst du?“), gab es plötzlich im Internet buchbare „slots“. Zügig an der Kasse das Ticket vorzeigen, auf angenehm leeren Bahnen stressfrei schwimmen. Billiger als in den Vorjahren war es auch. Und selbst das Schwimmbad in der Nachbarschaft öffnete plötzlich früh um sieben und nicht ar­beit­neh­me­r*in­nen­un­freund­lich mittags um zwölf. Seit Corona fahre ich fast ausschließlich Fahrrad. Früher gab es häufig sehr unschöne Begegnungen mit sehr aggressiven Autofahrern (zu 99 Prozent männlich). „Ey, Du F*“, war eine recht gewöhnliche Ansprache, wenn ich jemanden durch Handzeichen darauf aufmerksam machte, dass er mir gerade die Vorfahrt genommen oder mich mit einen 10-cm-Abstand überholt hatte. Mit all den Leuten im Homeoffice und mehr Pop-up-Radwegen fährt es sich deutlich entspannter.

Im Winter kam ein weiterer chilliger Aspekt dazu. Mit einsetzendem Schneefall bin ich aus Sicherheitsgründen auf die BVG umgestiegen. Da fiel mir auf: die ganze grelle, laute, auffordernde Werbung auf den Plakatwänden entlang der Strecken hatte sich irgendwie beruhigt. Viele dieser großen Tafeln waren plötzlich einfach – leer. Keine Veranstaltungswerbung mehr, keine Reiseziele, keine Restaurants. Wie oft hat mich das unter Druck gesetzt hat: „Man müsste doch mal …“, „ich hab schon wieder xyz verpasst … “.

Niemand muss mir jetzt damit kommen, wie scheiße die Situation zum Beispiel für Kulturschaffende und Gastronomen ist. Mein Mann arbeitet in diesem Bereich und ist seit 15 Monaten in Kurzarbeit. Ich weiß, dass nicht alle online Schwimmtickets buchen können. Dass gerade für berufstätige Eltern die Situation extrem belastend ist. Wie krass ungerecht staatliche Förderungen verteilt werden (wir denken nur mal Pars pro Toto an die 9 Milliarden für die Lufthansa versus 2 Milliarden, die nach anderthalb Jahren für Schü­le­r*in­nen lockergemacht wurden). Über all das muss man weiterhin sehr kritisch sprechen und schreiben. Nicht nur, aber auch, weil im September Wahlen sind.

Aber dies ist ein persönlicher Text. Und für mich persönlich war 15 Monate vieles besser. Ich werde es vermissen. Gaby Coldewey

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen