piwik no script img

berlin viralMangelwirtschaft und also Schlangen gibt es im Westen auch

Wie im Kommunismus sei das, sagte die Frau in der Schlange vor mir. Ich dachte kurz über ihren Satz nach, der die Schlange vor der neuen, hübschen Filiale der Sparkasse am Hermannplatz mit jenen von damals in beispielsweise der DDR verglich; mit anderen Worten, eine Schlange, die umzugs- und maßnahmenbedingt versucht, die Kundschaft auf Distanz zu halten, im Vergleich zu einer, die aufgrund von Mangelwirtschaft entstand. Überhaupt ist die Assoziation Schlange gleich Kommunismus eine seltsame, denn Mangelwirtschaft und also Schlangen gab und gibt es im Westen auch, nicht erst seit Corona. Man versuche nur mal, einen Wohnungsbesichtigungstermin wahrzunehmen.

Am Supermarkt an der Hasenheide durfte ich dann einen Einkaufswagen in Empfang nehmen, um damit Leute auf Abstand zu halten. Ich steuerte ihn durch die Reihen und dachte darüber nach, warum überhaupt noch mal damals dieser Einkaufschip erfunden wurde, der dieser Tage nur noch mehr Plastikmüll darstellt. Ursprünglich sollte das so ein Quasi-Pfandsystem darstellen, überlegte ich, damit die Einkaufswagen auch brav wieder an den Supermarkt gekettet werden. Aber wer, überlegte ich, würde heutzutage mit dem Einkaufswagen stiften gehen? Ihn, hähähä, in den Kanal stürzen wie so einen Elektrotretroller?

Währenddessen beschimpften sich zwei Frauen an der Kasse. Die eine war Sicherheitspersonal, das hier allerdings in ihrer Freizeit einkaufen ging, die andere hatte ihre Maske nicht ganz vorschriftsgemäß aufgesetzt. Aber es war die Sicherheitsfrau in ihrer Warnweste, die sich wehrte: „Ich habe Ihnen nicht auf die Möpse gestarrt! Ich dachte, Sie hätten Kreislauf!“ Das waren tatsächlich die Sätze, die sie sagte, und vermutlich hatte die andere Frau auf dem Boden gehockt, bevor ihr aufgeholfen wurde.

Seltsamerweise kicherte niemand um mich herum. Alle sahen betreten vor sich hin oder warteten die weitere Eskalation ab. Die beiden Damen trollten sich Richtung Ausgang, als diese Eskalation wie heraufbeschworen eintrat: „Wie haben Sie mich genannt?“, schimpfte die Sicherheitsfrau und wurde vorsichtig handgreiflich – sie zupfte der anderen am Ärmel. „Sie haben mich KZ-Aufseherin genannt!“ Tut mir leid, war so. Diese Worte sind tatsächlich so gefallen.

Die Leute flippen allmählich aus, dachte ich. Natürlich hat man in der Schlange zuerst den Impuls, auf diesen ganzen Quatsch zu schimpfen und sich und die Welt zu fragen: Geht das nicht auch normal? Ist das wirklich sicherer, von wegen Infektionsschutz, wenn alle sich draußen in der Schlange stapeln, statt in Ruhe nacheinander die Geldautomaten anzuzapfen? Und natürlich ist die staatliche und halbstaatliche, öffentliche Maßregelung im ersten Impuls immer auch übergriffig. Aber Contenance, dachte ich, Contenance ist auch eine Möglichkeit. Um mal nicht Waffe zu sagen. René Hamann

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen