berlin viral: Ein Besuch auf Zeit
Die Zahlen steigen, jedenfalls die einen, während die anderen stagnieren oder sogar fallen, die Lage ist bedrohlich, die klaustrophobische Stimmung steigt ebenfalls wieder. Noch scheint es, als ob ein neues, lokales Konzept sich durchzusetzen scheint, und eher auf Moral als auf Härte gesetzt wird.
Neulich lief ja ein „Pandemic Special“ der amerikanischen Zeichentrickserie „South Park“. Ich bin meist etwas genervt, wenn“ South Park“ schöne Sendezeit auf dem Lieblingssender Comedy Central verstopft, aber diese Doppelfolge fand ich schon sehr lustig. Andererseits packte mich der Grusel: Alle Figuren trugen Maske, auch im Freien, ansonsten war alles verschlossen, stillgelegt, zugesperrt, hypervorsichtig und doppelt und dreifach kontrolliert. Es war schlimm, aber nur ein Zeichentrickfilm! Nein, leider ist das Teil unserer Normalität, dass wir in einer Art wahrgewordenen Dystopie leben, in einer Realität gewordenen Verfilmung eines Science-Fiction-Films, der eigentlich nur in einer nie zu erreichenden Zukunft spielen sollte.
Passend, dass kürzlich der „5. Internationaler Tag der Fröhlichkeit“ begangen wurde, zumindest in Gropiusstadt, wohin ich eines dieser digital umkämpften Schwimm-Slots wegen gefahren war. Drei unglücklich wirkende Menschen mit Maske posierten vor einem selbst gemalten Plakat in der U-Bahn-Station und sammelten Unterschriften.
„Wir opfern viel, um wenige zu retten“, schrieb neulich jemand irgendwo, aber in der gut großen Schwimmhalle von Gropiusstadt war es selbst mir zu voll. Abstand halten in einem vollen Becken, das eigentlich breit und lang genug war – hier trainieren große Schwimmvereine auf Wettbewerbsniveau – wurde so recht schnell eine Illusion. Ich schwamm neun Mal hin und her, dann ging ich wieder.
„I spread love“, hatte jemand anderes an eine Häuserwand gesprüht. Auch nicht mehr so die Idee heutzutage.
Stimmt, die Liebe. Während ich das schreibe, passieren zwei Stromausfälle im Haus, und das bei Fernarbeit, und währenddessen sitzt die Liebste im Zug, etwas unsicher und besorgt. Ich freue mich darauf, sie später abzuholen. Es ist normalerweise kein besonderes Ereignis, an einem Bahnhof anzukommen. Aber was ist heutzutage schon normal? Die Liebste jedenfalls reist vom Ausland ins Inland, von Risikogebiet zu Risikogebiet, wie eine Maria ohne Josef, dafür aber mit den entscheidenden Papieren (Meldebescheinigungen, Antikörpertestnachweis). Eine Herberge musste sie glücklicherweise nicht mehr suchen. Es war nur ein Besuch auf Zeit. René Hamann
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