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Archiv-Artikel

berlin buch boom In neuer Chronologie: Die gesammelten „Webcam“-Texte aus den Berliner Seiten der „FAZ“

Zwischen September 1999 und Juni 2002 erschienen die „Berliner Seiten“ in der FAZ und wurden viel gelobt, aber auch als konzeptionelles Remake der Berlin-Kultur in der taz getadelt. Außerdem schienen sie in einem ähnlichen Verhältnis zum FAZ-Feuilleton zu stehen,wie das FAZ-Feuilleton eine Weile zum Rest der Zeitung; Stichwort: ich lese die FAZ ja wegen ihres Feuilletons.

Jeden Tag erschien auf den Berliner Seiten eine kurze Rubrik namens Webcam, die eine Art „Bildbeschreibung“ sein wollte und ein wenig an die Berliner Szenen auf den Berlin-Kultur-Seiten der taz erinnerte. Mit dem Unterschied, dass die Vorgaben einschränkender gefasst waren und die Textchen immer mit der genauen Angabe von Uhrzeit und beschriebenem Ort begannen, und auch mit einer genauen Uhrzeit endeten.

Manche dieser Webcams waren ganz gut gelungen, andere weniger, wie’s halt so ist bei Zeitungsartikeln. Hundertsechzig von ihnen wurden nun in einem Büchlein mit dem leicht affektierten Titel „Berlin im Licht“ wiederveröffentlicht, in dem auch das „Merkblatt Webcam“ mit den Anweisungen an die Autoren drin ist. Darin hieß es: „Der Autor ist ein Aufzeichnungsapparat, der keine Meinung beisteuert und kein Wissen.“

Prinzipiell ist es unmöglich, so zu schreiben, so zu tun, als sei man „Kamera“, „Mikrofon“ und ganz interesselos. Die Objektivität, die die Webcams suggerieren, ist nur scheinbar. Ohne Ich, dass sich trotzdem in der Wahl von Metaphern oder als gute Laune in den Text schleicht, wirken die Beschreibungen wie ein Experiment, bei dem man nichts über das Instrument erfährt, mit dem dies und das beobachtet wurde. Dass ein solches Schreiben dennoch ganz produktiv sein kann, hat Georges Perec in seinem 1978 erschienenen 800-Seiten-Roman „Das Leben – Eine Gebrauchsanleitung“, gezeigt, der größtenteils aus präzisen, endlosen Aufzählungen der Dinge besteht, die sich in den Zimmern eines Pariser Mietshauses befinden, und möglicherweise Vorbild für die „Webcam“ war. Wie auch immer.

Die für das Buch ausgewählten Texte wurden nach der Uhrzeit geordnet. Der erste Text spielt um 6.30 in einem Imbiss Torstraße Ecke Schönhauser, der letzte zwischen 5.37 und 5.56 im E-Werk, wo gerade (T)Raumschmiere Musik macht. Das Buch täuscht einen imaginären Tag mit echtem Leben vor. Der so konstruierte Tag wirkt aber völlig unglaubwürdig, da die Texte in verschiedenen Jahreszeiten und drei verschiedenen Jahren spielen und von 57 verschiedenen Autoren stammen. Die Anordnung ist Verrat an der alltäglichen Chronik der Ereignisse, die die Webcams sein wollten.

Wenn man’s hintereinander liest, wirkt alles etwas zusammenhanglos, mag der eine oder andere Text auch ganz okay sein. Eine andere Ordnung, etwa nach Tagen, Orten oder Funktionen, wäre vielleicht interessanter gewesen. Dann hätte das Buch „Berlin im Frühling“, „Hallo Kreuzberg“, bzw. „Mitte“ oder auch „Kneipen in Berlin“ heißen können, was aber Herrn und Frau Suhrkamp vermutlich nicht interessiert hätte.

Die Wiederveröffentlichung journalistischer Texte in Buchform ist ja sowieso problematisch, denn die Würde feuilletonistischer Texte liegt doch eigentlich in ihrer Vergänglichkeit. Die besseren der kleinen Webcamtexte machten Spaß, weil sie in einem Umfeld standen, das anders geschrieben war. Ohne dies Umfeld, ohne Datum auch noch (das erst im Anhang steht) und hintereinander weggedruckt, wirken die Texte belanglos und langweilig; ein weiteres überflüssiges Buch, das wohl nur erschien, weil der Verlag davon ausgeht, dass es sich verkaufen lässt. An angehende Autoren etwa, die vielleicht hoffen, mit Hilfe des Buchs zu lernen, wie man schreiben sollte, um in der FAZ für prima Zeilengeld gedruckt zu werden, wird sich das Buch allerdings nicht verkaufen – denn die Webcam-Rubrik gibt es ja nicht mehr. DETLEF KUHLBRODT

Stefanie Flamm, Iris Hainka (Hg.): „Berlin im Licht“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2003, 263 S., 8,50 Euro