berlin buch boom macht endlich sinn : „Berlin“: Das erste gute Berlin-Buch
Seit Jahr und Tag kümmert sich diese Kolumne um Berlinbücher. Leider gibt es nur wenige, in denen man das Wort „Berlin“ nicht gegen „Hamburg“ oder „Leipzig“ austauschen könnte. Nun endlich eines, wie wir es uns wünschen: ein Buch der Schlaglichter, in dem der Mythos Berlin weder aufgegriffen noch dekonstruiert wird – er wird einfach nicht ernst genommen. Der Erzähler in diesem Buch, welches schlicht „Berlin“ heißt, beschränkt sich auch nicht auf einen Bezirk, eine gesellschaftliche Gruppe, ein Thema.
Vielmehr flaniert er tatsächlich durch die Stadt – mit einem kleinen Figurenensemble, das eben nicht aus Charakteren besteht, nein, Roland, Pierre, Anja, Kurt, Nicole und Manja haben keine Vergangenheit, keine Geschichten, auch keine Geschichtchen, und vor allem: sie sind weder sehr sanft noch super hart. So kommt Berlin in „Berlin“ von Claudia Müller tatsächlich zu seinem Recht, es wird ohne Übertreibungen, ohne Comic-Anleihen, ohne romantische Verklärung, ohne Pop, ohne das Instrumentarium des Provinzromans geschildert.
Kurt verläuft sich in den Tunneln unterm Alexanderplatz, er empfindet das nicht als Abenteuer, es ist einfach nur ärgerlich. Manja trinkt. Sie hat wie alle Leute, die in einer großen Stadt lang unterwegs sind, merkwürdige Begegnungen, und doch macht das aus ihr keine ungewöhnliche Figur. Roland und Pierre haben eine Liebesbeziehung, Pierre eine mit Nicole, doch nichts ist daran so außergewöhnlich, dass Müller mehr als zwei Seiten braucht, um diese Konstellation zu beschreiben – sie braucht allerdings zwölf Seiten, auf denen sie detailliert darstellt, wie sich Pierre und Roland beziehungsweise Pierre und Nicole durch die Stadt bewegen müssen, um nicht zufällig auf den jeweils Dritten in dieser Menage à trois zu treffen.
Manja hat einen Stadtplan im Kopf, der ihr hilft, immer rechtzeitig einen geöffneten Kiosk zu finden, bevor der Alkoholpegel zu stark abfällt. Müller schreckt nicht davor zurück, die Orte, die betreten werden, genau zu beschreiben; wenn sie mag, schildert sie auch die Geschichte der Orte. Dadurch dass Müller ihre Figuren durch die Stadt führt, und zwar durch die ganze, entsteht eine Karte, zu der man sich Geschichten ausdenken muss, denn die Figuren haben keine.
So wird Berlin zur Protagonistin dieses Buches, das kein Roman ist und kein Essay. Und das viel mehr über diese Stadt zu sagen weiß, als all die Bücher, in denen sich Leute „irgendwie fühlen“. Schade, dass dieses Buch nicht existiert.
JÖRG SUNDERMAIER