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bergmannkiezKreuzbergs neuer Kaisers

In das umstrittene Gesundheitszentrum in der Bergmannstraße zieht der erste Mieter ein: der SB-Markt mit der lachenden Kaffeekanne. Alteingesessene Anwohner finden den "Klotz" weniger lustig.

Das wäre ja noch schöner, wenn keine Wehmut aufkäme. Jahrzehntelang hat der Supermarkt mit der lachenden Kaffekanne den halben Bergmannkiez in Kreuzberg 61 versorgt. Und jetzt macht Kaisers in der Zossener Straße dicht. Am Mittwochabend um 20 Uhr war Schluss. "Ich habe hier immer eingekauft, meine Eltern auch schon", sagt Yasemin Gencer. "Wir kennen jede Verkäuferin, und als mir mal das Geld geklaut wurde, hat mich eine anschreiben lassen." Sie findet es einfach "schade", dass Kaisers hier aufhört. Andere, die draußen vor dem Eingang den Durst mit Hochprozentigem bekämpfen, finden es "echt Scheiße", was neben der Tür vermeldet wird. Dort steht: "Wir ziehen um".

Bergmannkiez

Einst war das Viertel Kult. Die "bunte Mischung" aus günstigem Wohnen und Arbeiten, den muffigen Trödlerläden, der billigen Markthalle und der Kiezkneipe - wie in den 80er-Jahren - war das Markenzeichen des Bergmannkiezes. Heute haben sich die Vorzeichen verändert. Die Mieten sind hoch, statt Trödlerläden gibt es viele schicke Straßencafés, Mode und Design. Im "Knofi" und in Weinhandlungen wird an Kunden mit Kohle verkauft. Den berühmten Edeka, den Stadtteilladen sowie das alte Wirtshaus Turandot und andere Rudimente glorreicher Tage gibt es noch. Aber wie lange noch?

Der kleine enge Laden in dem Flachbau aus den 60er-Jahren ist Geschichte. Für einige geht damit ein Stück Kreuzberger Heimat verloren - umso mehr, weil die Zukunft des Supermarkts im umstrittensten Kiez-Bauprojekt der vergangenen Jahre liegt: dem neuen Gesundheitszentrum in der Bergmannstraße 5 bis 7. Die Einzelhandelskette eröffnet hier am heutigen Donnerstag ihre neue, größere Filiale. Kaisers ist der erste Mieter in dem riesigen Ärztekomplex.

Bis Juni sollen nach Angaben der Investorengruppe Wabe und des grünen Bezirksbürgermeisters Franz Schulz der Großteil der etwa 10.000 Quadratmeter Fläche für Praxisräume, Laborbetriebe, medizinisch-therapeutische Institutionen, Angeboten für die Prävention und weitere medizinnahe Einrichtungen bezogen sein. "Hundertprozentig vermietet ist der Block aber noch nicht", wie ein Projektmitarbeiter zugibt.

In erster Linie wird im Gesundheitszentrum Bergmannstraße ein Facharztzentrum konzentriert. Schwerpunkte werden in über zwei Dutzend Praxen die Orthopädie-Chirurgie, Onkologie, Geriatrie, Neurologie, Kindertherapie, Schmerztherapie und Stoffwechselerkrankungen sein. Hinzu kommen auf weiteren 5.000 Quadratmeter Fläche noch ein Operationstrakt, ein Schulungszentrum, Räume für Apotheken, Drogerien, Gastronomien und weitere Einzelhandelsbetriebe. In das umgebaute Umspannwerk im Hinterhof soll ein Fitness- und Wellnessanbieter einziehen.

Jetzt, wo der Bauzaun vor der Fassade gefallen ist, zeigt das Gesundheitszentrum sein breites, über 50 Meter langes Gesicht. Links und rechts eines leicht vorspringenden Mittelrisalits schließen die Gebäudeflügel an die benachbarte gründerzeitliche Architektur an. Die fünf Stockwerke werden von Fensterbändern und horizontalen Profilen gegliedert und erinnern an Bauten aus der Zeit der Neuen Sachlichkeit in den 20er- und 30er-Jahren.

Zum Gesundheitszentrum hinauf gelangt man durch einen hohen, von dicken Pfeilern bewachten Eingang. Die Treppe führt die Besucher auf eine frei zugängliche obere Ebene über der Bergmannstraße. Hinter dieser Plattform weitet sich das 30 Millionen Euro teure Zentrum bis hinauf zur Arndtstraße mit backsteinernen Gebäuderiegeln in Richtung Tempelhofer Berg und zwei Blöcken hin zur Arndtstraße. Vom ehemaligen Brauereigelände sind nur das denkmalgeschützte Umspannwerk und ein Altbau geblieben. Von der zuletzt genutzten Bebauung durch einen Lebensmittelmarkt und der berühmten Habelschen Trinkhalle steht gar nichts mehr.

Es hat in der Vergangenheit nicht nur viel Streit um das Bauvorhaben und seinen Stellenwert an dem Standort gegeben, wie Bürgermeister Schulz sich erinnert, sondern auch um die Fassadengestaltung. "Wir haben lange darum gerungen, dass es eine Lösung im Stil und mit Anleihen an die 20er-Jahre wird", so der Bürgermeister. Der jetzigen Fassade gingen andere Überlegungen des Investors voraus: ein Haus im postmodernen Gewand oder in fast gläserner Architektursprache. Beide Vorstellungen wären aber "zu wuchtig" geworden und hätten "das Haus nicht in das Umfeld des gründerzeitlichen Ensembles eingereiht", meint Schulz. Darum sei er "mit dem jetzigen Ergebnis zufrieden". Das Haus zeichne sich in Richtung Bergmannstraße durch eine "gewisse Eleganz aus, und es besitzt eine gute Gliederung".

Richtig ist, dass die Fassade nicht unrühmlich aus der Reihe tanzt und sachlich gestaltet ist. Gut ist auch, dass die Traufhöhe eingehalten und auf Dialog mit dem Genius Loci gesetzt wurde. Trotzdem ist die breite Front ein dicker Brocken in der sonst so feingliedrigen Bergmannstruktur, die das erst einmal verdauen muss. Außerdem hätten die Wabe-Architekten gut daran getan, sich das Original noch besser anzuschauen. Das "Haus Tauentzien" in der Nürnberger Straße von den Architekten Bielenberg und Moser aus den Jahren 1928 bis 1931 etwa ist ein Vorbild für das Ärztezentrum. Doch was dort durch ein Spiel der Strukturen, Formen und Materialien zum Meisterwerk wurde, wirkt hier infolge einer zu geringen architektonischen Klarheit doch manchmal unausgereift und etwas schlicht.

Den Streit um den Abriss der alten Nutzungen 2006 und die Neuansiedlung des Gesundheitszentrums an dieser Stelle haben viele Anwohner und ein Bürgerverein bis dato nicht verdaut. Dem Mieterrat Chamissoplatz geht die Verdichtung des einmal als Grünfläche anvisierten Brauereigeländes gegen den Strich. Ebenso wie viele Ladenbesitzer wünschten sie sich "so einen Klotz" höchstens am Mehringdamm. Sie befürchten mehr Lärm sowie ein Verkehrschaos wegen der zusätzlichen Liefer- und Krankenwagen. Fast 8.000 Autos kurven täglich durch die Bergmannstraße, Rund 1.000 sollen laut einem Gutachten der Bauherren künftig dazukommen. Die Gegner sagen, es werden weit mehr.

Heinz Kleemann, Vorstand im Mieterrat, ist sauer. In den Bergmannkiez sei "ein Riesenblock reingesetzt worden", der "dem Umfeld nur Schaden bringt". So sei eine Verdrängung des Bestehenden zu befürchten. "Das Reformhaus hat schon zugemacht", sagt Kleemann. Außerdem sei zu erwarten, dass das Ärztehaus andere Praxen zur Aufgabe zwingt. "Wir haben dort schon jetzt eine große Ärztedichte." Ein derart großes Gesundheitszentrum sei deshalb schlichtweg überflüssig.

Kleemann geht es eigentlich um etwas anderes: um den Niedergang der Bergmannstraße aus seiner Sicht. Großprojekte wie das Gesundheitszentrum, die jüngst erfolgte Sanierung der Marheinekehalle, eine Konzentration von Einzelhandel und die "geballte" Ansiedlung immer neuer Kneipen und Cafés bedrohten alte Strukturen im Kiez.

Seit der Sanierung habe "die Markthalle keine Atmosphäre mehr", sagt er. Auch verschwänden kleine Trödelläden und würden zu Bistros umgewandelt. "Wenn jetzt noch das Gesundheitszentrum hinzukommt, wird die Straße nicht mehr so sein wie früher. Die Bergmannstraße wird ein Ballermann."

Konny und Frieder im Atlantic, das dem Gesundheitszentrum schräg gegenüberliegt, schlürfen einen Prosecco. Sie teilen wie viele andere - die offensichtlich Geld, Zeit und Muse haben - diese Sorgen nicht. Klar, der Baulärm hat sie genervt, wenn sie mal zum Frühstücken oder auf einen Espresso ins Atlantic gingen. Aber dass sich "die Bergmann" wandelt und verändert, "ist doch okay". Die neue Kiezbourgeoisie hat keine Probleme mit einer Kaffeehausmeile oder dem Ärztehaus.

Auch nicht der grüne Bürgermeister. Schulz lobt die Konzentration von Fachärzten. Ihr Zusammenschluss vor Ort und die Chance der "Vernetzung" führten nicht nur zu einer Verbesserung medizinischer Versorgung im Bezirk, sagt er. Das Gesundheitszentrum böte zudem ein Stück "Aufenthaltsqualität" mehr in der Bergmannstraße - verglichen mit der Situation vorher.

Schulz ist auch nicht bange vor dem, was die einen kritisieren und die anderen genießen. "Ich glaube, der Charakter der Straße ändert sich nicht". Durch neue Nutzungen wie das Gesundheitszentrum, neue Läden oder die Sanierung der Markthalle werde die Meile "nicht kollabieren". Mehr noch: "Ihr Charme bleibt" - wenn auch mit weniger Flair als zu Zeiten, da die Straße Kultstatus genoss, ist man geneigt hinzuzufügen.

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