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Archiv-Artikel

barbara bollwahn über Rotkäppchen Wer die DDR lobt, wird bestraft

Vom kostenlosen Gesundheitswesen und subversiven Wortspielen: Als der Guatemalteke nach Sachsen kam

Als ich Mitte der 80er-Jahre an der Karl-Marx-Universität Leipzig Spanisch studierte, hatten wir im zweiten Studienjahr einen Konversationslehrer, der aus Guatemala stammte. Raúl lebte und arbeitete in Paris und kam mit einem Einjahresvertrag ins Land der Fünfjahrespläne, um in Sachsen seine Muttersprache zu unterrichten. Das war ziemlich aufregend, denn damals konnte ich mir weder Guatemalteken noch irgendwelche anderen Muttersprachler vor Ort ansehen, sondern musste mit dem vorlieb nehmen, was uns die Uni vorsetzte.

Jetzt, 18 Jahre später, fliege ich endlich nach Guatemala, wo Raúl seit einigen Jahren wieder lebt, um ihn zu besuchen. Dort werde ich nun von meiner DDR-Ausbildung profitieren. War also doch nicht alles so schlecht damals? Gemach, gemach. Ich konnte zwar in einem Ostblockland Spanisch studieren. Aber dieser Umstand war nur der gnadenlosen Selbstüberschätzung der Regierung geschuldet, die aus mir unverständlichen Gründen überzeugt war, dass sich die Handelsbeziehungen zu spanischsprachigen Ländern quasi von heute auf morgen exorbitant entwickeln würden, sodass ganz schnell ganz viele Dolmetscher und Übersetzer gebraucht würden.

Also wurde an der Leipziger Universität ein Schnellschuss-Studiengang initiiert, der ein Witz war. Er dauerte drei Jahre, Auslandsaufenthalte gab es nur für sehr wenige erlesene Studenten, die in der Partei waren. Übersetzungen gestalteten sich schwierig, weil es kaum Wörterbücher gab. Und wertvolle Zeit wurde mit Pflichtfächern wie Marxismus/Leninismus und Politischer Ökonomie verschwendet.

Doch zum Glück gab es Raúl. Nicht nur, weil ich ihn, seine rauchige Stimme und seine filterlosen Gauloises wahnsinnig attraktiv fand. Sondern weil er nicht so einen langweiligen Unterricht machte wie die deutschen Lehrer. In einer seiner ersten Stunden trug er uns auf, uns eine neue Identität zuzulegen und diese dann – natürlich in Spanisch – vorzutragen. Flugs machte ich aus meiner Mutter, einer Diplomlandwirtin, eine bekannte spanische Journalistin und aus meinem Vater, einem Landarzt in Sachsen, einen international renommierten Chirurgen. Statt zur Miete in einem kleinen Dorf in Sachsen lebten wir in einer schönen alten Villa mit Pool in Andalusien, und regelmäßig fuhr ich zu Studienreisen nach Guatemala. Zur Illustration meiner neuen Identität fertigte ich zahlreiche Fotomontagen an. Spielend lernte ich also die Sprache.

Eins der ersten Wörter, die ich von Raúl lernte, war „mierda“, auf Deutsch: Scheiße. Zugegebenermaßen kein besonders feines Wort, aber auch im Osten ziemlich häufig in Gebrauch. Als ich es an der Tafel geschrieben sah, durchzuckte es mich. Die letzten drei Buchstaben von mierda, rda, kannte ich als Abkürzung für „República Democrática Alemana“, R.D.A., Deutsche Demokratische Republik. Die DDR steckt in der Scheiße!, schoss es mir durch den Kopf. Erschrocken blickte ich mich im Seminarraum um: Hatten die anderen dieses subversive Wortspiel auch bemerkt? In ihren gleichmütigen Gesichtsausdrücken war nichts zu erkennen. Aber ich traute mich auch nicht, nach dem Unterricht im kleineren Kreis zu fragen. Die „Ich sehe was, was ihr nicht seht“-Erkenntnis trug ich wie ein Geheimnis mit mir herum.

Nur Raúl erzählte ich davon. Er hat sich köstlich amüsiert. Doch im Unterschied zu mir, die praktisch alles Scheiße fand, wollte er unbedingt einige gute Haare an der DDR lassen. Lang und breit klagte er über das teure Gesundheitssystem in Frankreich und hielt mir vor Augen, dass der Osten in dieser Hinsicht geradezu paradiesisch sei. Stolz zeigte er mir seinen Arbeitsvertrag mit der Klausel, die ihm versicherte, dass die Universität Leipzig für Arztbesuche oder Krankenhausaufenthalte aufkommt. Wie der Zufall es will, musste Raul wenige Wochen später ins Krankenhaus. Er hatte Wasser in der Lunge, und es ging ihm gar nicht gut. Nach einigen Wochen wurde er entlassen und erzählte mir, wie erleichtert er sei, dass ihm dieses Malheur nicht in Frankreich passiert ist. Das hätte ihn ein Vermögen gekostet!

So, dachte ich, dir werd ich’s zeigen. Ich nahm ein Schreiben von der Universität und kopierte den amtlichen Briefkopf auf ein Blatt Papier. Darauf tippte ich eine Rechnung, die ihn sein Loblied auf die DDR vergessen lassen sollte. Im Namen der Karl-Marx-Universität forderte ich ihn auf, unverzüglich 3.500 Mark Behandlungskosten zu zahlen. Als mir Raúl nach einem Seminar schockiert von der Rechnung erzählte, ließ ich ihn einige Zeit zappeln, bevor ich ihm meine Schandtat beichtete.

Morgen fliege ich endlich nach Guatemala City. Raúl, der dort an der Universität lehrt, hat mich gebeten, seinen Studenten ein paar Geschichten aus der DDR zu erzählen. Die „Mierda“-Anekdote wird dabei sein. Schließlich gibt’s die Scheiße nicht mehr.