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Archiv-Artikel

ausgehen und rumstehen Wenn der Ur-Typus trommelt

Mal ehrlich: Wer interessiert sich eigentlich noch für den Tag der Deutschen Einheit? Da der 3. Oktober regelmäßig so unerwartet auftritt wie Weihnachten, traf man keine Vorbereitungen, ist mit niemandem verabredet und hat absolut keine Idee, was mit einem geschenkten Vor-Freitagabend anzustellen sei. Zuhause bleiben und rumliegen ist nicht Plan, sondern Zwangsläufigkeit. Um aber wenigstens irgendwas zu machen, gehe ich einfach nicht ins Bett, klicke unmotiviert durchs Netz und bleibe bei der super-politen TV-Debatte von Joe Biden und Sarah Palin hängen. Die Frau aus dem ewigen Eis ist, glaube ich, definitiv nicht der Ötzi, erscheint mir dennoch ähnlich lebensfern.

Auf eine strenge Frage der Moderatorin quasselt sie entsetzt davon, dass Barack Obama sich auch mit einigen Diktatoren an den Verhandlungstisch setzen wolle, die Amerika hassen und das, wofür es stehe. Sollte der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad womöglich eines Tages mit seinen Jungs und ordentlich Sprengstoff nach Washington marschieren, weil er es hasst, dass Amerika noch immer dafür steht, gegen die Homoehe zu sein? Abwegige Gedanken, abwegige Uhrzeit – Ende.

Jakob kann mir die Amis auch nicht besser erklären. Vom Wunsch, einmal quer durch den Mittleren Westen zu fahren, um die Weite und den Geist der Vereinigten Staaten zu spüren, rät er mir sogar bestimmend ab. Man könne genauso durch die menschenleere Altmark reisen. Dort ist es außerdem weniger hässlich. Ich widerspreche ungern, er war ein Jahr drüben, wir treffen uns in der Volksbühne. Im Programmplan steht etwas von Antanzen gegen den Bionade-Biedermeier und Konzerten auf vier Bühnen bei Fuck Off – Berlin Insane.

Die Schlüsselworte sind die richtigen. Draußen zog gerade eine Nachttanzdemo nach Kreuzberg weiter und mit ihr potenzielle Gäste. Mamasweed geben vor wenig gefülltem großen Saal den Einstand mit druckvollem Woodstockrock, der vielleicht auf ein Schema fokussiert ist, aber mit Iggy Pops „I Wanna Be Your Dog“ als Zugabe die Hütte so sehr brennen lässt wie das Trommelfell. Vier Musiker, fünf hektische Kameraleute – insane oder Show?

Danach lässt uns eine heimelige, aber etwas planlose Klassenfahrtstimmung den Abend über nicht mehr los. Rummelsnuff, Neonman, Boy from Brazil – leider in der Fülle des Angebots nicht gesehen, dafür zum Glück andere oftmals ziemlich gute oder nur schräge Bands erwischt. So wie den Schlager-Dandy mit Beatbox-Techno und Ein-Wort-Dada-Texten à la „Mexico“ und „Putzen“, die dann minutenlang samt Rauchringen spuckender Nebelmaschine den Raum voll Mitgerissener füllen. Auf dem Plan war zu diesem Zeitpunkt Gay Fight Club angekündigt. Im Pausengespräch offenbart der Schlager-Dandy, dass sich der Zeitplan verschob und er Mark Boombastik heißt. Ja, wenn das so ist – der Name klingt leider sehr geerdet.

Schnell weiter zu Andrew Unruh von den Einstürzenden Neubauten, bei dem das Publikum eingeladen ist, die bereitgestellten Drums zu bespielen, als gäbe es kein Morgen – Sticks splittern, Cymbals reißen, Männer schwitzen, Blasen wachsen. Beeindruckend, wie innerhalb weniger Augenblicke der Ur-Typus ausbrechen kann. Trommelst du bei mir, trommel ich zurück!

Stiernacken-Securities spielen dazu die verantwortlichen Lehrer. Sie holen Punkerpärchen aus Toilettenkabinen und sind insgesamt ein wenig zu sichtbar. Über der Hauptbühne hängen gruselige Rockabilly-Poster, die Botschaft heißt Distinktion vom Musikkommerz da draußen und: Diese großen Konzertabende in der Volksbühne funktionieren doch eigentlich immer. NIELS MÜNZBERG