ausgehen und rumstehen : McBeth und das Gras im Puddingpool
Stell dir vor, es ist Popkonzert – und keiner geht hin. Immer öfter muss man halb leere Säle ertragen. Das liegt wohl an der Tatsache, dass die diversen Popwunder von Kate Perry bis Gabriella Cilmi live nicht überzeugen können, so vor einiger Zeit auch bei A fine frenzy erlebt. Die Big Band zu Hause lassen kann helfen, aber hätte Alison Sudol noch ein wenig zarter gesungen, wäre sie die erste Kandidatin für ein Duett mit Carla Bruni gewesen, die mit ihrer Stimmpracht ja gerade durch die Talkshows tingelt.
Wie schön waren doch die Zeiten, als jedes möglicherweise noch so unverdient erfolgreiche Popsternchen von Suzi Quatro bis Cindy Lauper trotz aller Defizite im musikalischen wie textlichen Bereich eine überzeugende Liveperformance auf Knopfdruck abliefern konnte. Wunderbar lässt sich das etwa bei Michael Jacksons „USA for Africa“-Projekt mit ihrem Titel „We are the World“ beobachten. 90 Prozent der Musiker kann man nicht ausstehen, und 60 Prozent kennt kein Mensch mehr, aber stimmlich stecken sie fast jeden heutigen Chartanwärter in die Tasche. Doch wozu offene Türen einrennen.
So oder so ähnlich philosophierte meine Wenigkeit vor sich hin, als sie erkannte, dass sie alt wurde. Mein 26. Lebensjahr war just an diesem Tag angebrochen, und meine Arbeit in einem von „Blitzkrieg, Blitzkrieg!“-rufenden Briten bevölkerten Club hatte dafür gesorgt, dass ich seit fünf Wochen auf keiner Tanzveranstaltung mehr war.
Ich philosophierte nicht mal mehr, sondern quatschte einfach nur dumm daher. So wie man eben dumm daherquatscht, wenn man lange abstinent war und der zahnlückige Keyboarder von Rosenstolz sein Gras auf dem Tresen liegen lässt. So wechselte das Gras den Besitzer und das Unbewusste den Zustand. Falls das unter die Rubrik „bierseliges Abzocken“ fällt, möchte ich mich nicht nur dafür entschuldigen, sondern auch für die Zeit, in der ich winzige Krümel des Haschischs von Heiner Müller auf dem Schulhof des zum Hochsicherheitstrakt mutierten Jüdischen Gymnasiums zu überhöhten Preisen verkaufte. Doch davon ein andermal mehr, heute soll es um die Perspektivlosigkeit und unendliche Eintönigkeit im Clubleben gehen. Denkt man zumindest zuerst. Denn kaum beginnt man die Gliedmaßen in Bewegung zu setzen, lechzt der Körper nach mehr.
Wir fahren ins Relais und staunen: „Heidewitzka!“ – falls man so was noch sagt. Wozu klotzen, wenn es noch größer geht, hatte man sich wohl gedacht und die verschiedenen Floors auf beeindruckende Art und Weise dekoriert. Ob ganz in Blau oder zugefroren auf dem Eis-Dancefloor (für den man sich freundlicherweise Pelzmäntel ausleihen kann), alles kommt daher, als hätte PopArt-Rapper Kanye West sich eine Wohnung in Berlin gekauft, und heute wäre Tag der offenen Tür. Leider wartet man vergebens auf Mädchen in Rüschenröcken mit überdimensionalen Zuckerstangen und einer Einladung in den Puddingpool. Uns ist das erst mal egal, und wir tun etwas, was wir als Tanzen bezeichnen würden, von K.I.Z. – der amüsantesten Band seit „Drei Flaschen inna Plastiktüte“ – allerdings treffend mit „Wir springen auf dem Boden herum, als hätte er unsere Mutter beleidigt!“ beschrieben wurde. „Sind das nich ’n bisschen viele Musiker in einem Gedanken?“, frage ich mich selber, fühle mich gefangen im ewigen Kreislauf der Fragen und weiß nicht mehr genau, ob ich noch denke oder schon bin.
Vor der Tür schwebt ein Marktschreier: „Shakespeare-Wochen bei McDonald’s! Der McBeth für nur 1,99 Euro!“, brüllt er und verschenkt Burger an jeden überdimensionalen Kanarienvogel, der vorbeiläuft. Als ich am nächsten Morgen mit ausgetrockneter Mundhöhle und dem dringenden Wunsch nach Flüssigkeit aufwache, ist die Schwerelosigkeit dahin. Und ein Keyboarder fragt sich, wo sein mit LSD beträufeltes Gras abgeblieben ist.
JURI STERNBURG