ausgehen und rumstehen : Hauptsache raus! Mal so richtig depressiv auf die Piste gehen
Auch der hypochondrische Melancholiker kann nicht immer daheim bleiben. Wenn die Gedanken sich im Kreis drehen, wird es mitunter zu eng in der Wohnung. „Hauptsache raus!“ heißt dann die Devise. Aber wohin? Das depressive Ausgehen will gelernt sein, zu viel Lebensfreude ekelt einen an, zu viel engagierte Ausgehleute machen aggressiv, aber so ganz stumpf irgendwo rumstehen will man auch nicht. Gut, wenn man gleich beim Start ins Ausgehwochenende, also am Donnerstag, eine Antihaltung an den Tag legt: Sollen doch die Deppen zum frisch angelaufenen „Slumdog Millionär“ in die überfüllten Kinos rennen! Wer seine stille Grundtrauer, das wehe Gefühl der Vergeblichkeit kultivieren will, der sucht sich etwa anderes aus.
Warum nicht mal so einen richtig schlechten, deutschen Film anschauen? Warum nicht zu „Hilde“? Das misslungene Knef-Biopic sieht stellenweise so hässlich aus wie ein Sat1-Film, und je unsymphatischer einem die Knef wird, desto mehr Mitleid empfindet man mit der armen Heike Makatsch, die sich redlich bemüht, aber nix retten kann. Aber es ist schön, wenn ein allgemein verrissener Film dann wirklich schlecht ist, das gibt einem den Glauben zurück, nicht an die Welt, aber immerhin an die Filmkritik.
Am Freitag ist der eigene Auftritt bei einem Wohnzimmerkonzert geplant. Warum auch nicht? Lieber in fremden Wohnzimmern singen und lesen, als niedergeschlagen auf der eigenen Couch liegen. Der Weg zum unbekannten Auftrittsort führt ins hintere Friedrichshain. Es gibt ja wohl alle paar Jahre wieder eine neue Wohnzimmerbewegung, die letzte so um 1997 hieß „Hausfrau im Schacht“. Damals schon waren die Wohnzimmerkonzerte trotz toller Bands wie Contriva und Barbara Morgenstern arg harmlos-hippiesk, es war die Zeit, in der alles niedlich wurde. Damals schon wäre man lieber in lauten Räumen gestanden und hätte Wodka getrunken, als im Schneidersitz zum Wohnzimmersound Kekse zu essen. Die Wohnzimmerkultur steht und fällt ja mit den Wohnzimmern, das zerbröckelt Charmante der seligen Neunziger ist längst auch in Friedrichshain vorbei. Die Treppenhäuser sind ordentlicher als das eigene, die Zimmerpflanzen sind beängstigend gesund, das Publikum muss die Schuhe im Flur ausziehen.
Nach allzu viel Bürgerlichkeit ist das gute alte NKZ ein gutes Gegengift. Im Westgermany hängen die Kabel so lieblich von den Zwischendecken runter, der Wodka Tonic schwappt so bescheiden in den Plastikbechern, auf der Bühne lärmt eine Band – man könnte nach vorne gehen, bleibt dann aber doch in den Plastikstühlen bei der Bar hängen.
Eine interessante Kunstperformance bei Pro qm sollte am Samstag eigentlich das Wochenende abrunden, aber irgendwie ist beim depressiven Ausgehen nach zwei Tagen einfach die Luft raus, ein Kratzen im Hals ein innerlicher Schüttelfrost, die ewige Frage des Melancholikers: „Wozu, wozu das alles?“ Und schon liegt man auf dem Sofa und schaltet zwischen „Wetten dass?“ und „DSDS“ hin und her. Eine außergewöhnliche Performance gab es dann auch bei Gottschalk: Dort ließ sich ein Mann mit extrem ausdefinierten Bauchmuskeln mehrmals von Autos überfahren und sang dazu „O sole mio“, bei „DSDS“ wurde eine Blondine schwer gedisst, aber man wusste nicht, warum. Da rächt es sich, dass man die letzen beiden Shows bewusst ausgelassen hatte, um der eigenen Verlotterung entgegenzuwirken.
Am Sonntag ist das Wochenende dann ja auch schon fast geschafft, die übliche Routine „Lindenstraße“, „Weltspiegel“, „Tagesschau“, „Tatort“, und „Titel, Thesen, Temperamente“ leiten sanft in den Abend und die neue depressive Woche über.
CHRISTIANE RÖSINGER