ausgehen und rumstehen : In der Ahnung von Scheiße durch die Nacht mit Matt Bukowski und einem Antikriegslied
Eine Ahnung von Scheiße, wie Peter Handke heute schreiben würde, hatte sich bereits früh über den Sonnabendabend gelegt. Pünktlich zum Jahresbeginn erfüllte der Januar alle Klischees und der große epische Zusammenhang des Nachtlebens war endgültig eingefroren und hatte alle Metaphern auf den vereisten Gehwegen ins Rutschen gebracht.
Solche Abende beginnen ja immer im Kino. Um halb acht sollte der Film in der Kulturbrauerei beginnen. Perfekt, um nicht selbst kochen zu müssen und in der überhitzten Wohnung liegen zu bleiben. In blinder Furcht vor der Kälte sowie weltfremder Verkennung der Parksituation vor der Kulturbrauerei fährt man dann mit dem Auto. Schöne Scheiße: Die fünfminütige Fahrt und halbstündige Parkplatzsuche bieten immerhin genug Zeit, mit der Freundin einmal ziemlich definitiv die Frage zu klären, wessen Idee das gewesen war und wer sich nur überreden ließ.
Die Kulturbrauerei ist dann brechvoll mit den üblichen Nur-für-Erwachsenen, die wahrscheinlich alle bloß in den „Sommer vor dem Balkon“ wollen. Zum Glück beginnt der eigene Film jetzt doch erst um Viertel nach. Hektik verwandelt sich schlagartig in Muße. In aller Ruhe lehnen wir oben an der Empore und blicken hinunter auf das Treiben im Foyer – der erste schöne Augenblick an diesem Abend. Bevor man dann wieder mit nervös hochgezogenen Schultern in einem tatsächlich restlos ausverkauften Film sitzt, der bereits sechs Wochen läuft und in dem Matt Dillon so gar nicht zu Bukowski werden will. Die Leute lachen trotzdem, wie immer und über jeden Scheiß (wahrscheinlich haben sie keine Karten mehr für den Balkonsommer bekommen).
Ein wesentlich bukowskieskeres Bild geben jedenfalls anschließend wir mit Zigaretten und Alkohol im zunächst noch angenehm leeren Prassnik ab. Der Laden füllt sich kurz darauf quantensprungartig, nur die beiden Freunde, mit denen man verabredet war, kommen zu spät. Der Familienvater gar eine satte Stunde, was schon zu den schlimmsten Befürchtungen von Hauskrach führt. Aber dann kommt er nur von einer anderen Abendgesellschaft im Prater, wo offenbar gerade in einem Riesenspektakel eine Silvester-Fremdgeherei per Handy aufgeflogen ist – „kein Scheiß, Mann“. Immerhin beschert er einem so den zweiten schönen Augenblick des Abends: Ach ja, Silvester, sieben Tage her und long gone.
Noch eine Runde und dann aber rüber ins White Trash in der Schönhauser, das auf seinen beiden oberen Etagen schon zu einem Themenrestaurant für Mitte-Touristen geworden ist, sich dafür aber im Kellergeschoss mit Live-Musik und Tanzfläche zu einer echten Clubalternative mausern könnte. Heute Abend spielen hier Jim Morrisson mit Sweet Lord Chariot (oder so) und Goldfisch, deren Sängerin Danuta irgendwie an die wie vom Erdboden verschwundene David-Lynch-Chanteuse Julee Cruise erinnert. Danuta sagt tatsächlich „Hallo, wir sind Goldfisch“ und „Jetzt kommt ein Antikriegslied“. Und das White Trash verströmt plötzlich den Charme eines bundesrepublikanischen Jugendzentrums, und wir setzen uns auf die Bänke an der Wand und trinken noch mehr Bier.
Bevor dann anschließend-abschließend das Comeback des Songs auf dem Dancefloor mit Ziggy Stardust, Art Brut und den Nine Inch Nails von einem durchweg angenehm gestylten und nur etwas zu besoffenen Publikum frenetisch betanzt wird. Auf dem kurzen, kalten Nachhauseweg fällt einem dann doch noch mal Matt Bukowski ein: „Die Welt ist eine Stadt“ – so hatte er es acht Stunden zuvor brav aufgesagt. Gut, dass wenigstens die Scheiße in der Kälte längst eingefroren und jede Ahnung verflogen war. ANDREAS MERKEL