ausgehen und rumstehen : Der Wahn geht weiter: mit Alkohol, Nikotin und Kartoffelchips grob in Richtung Erlösungsstille
George Best spielt Standfußball auf dem alten Nordmende-Fernseher, der im Schaufenster des neuen Ladens an der Veteranenstraße steht, dem „Dave Lombardo“. Die Spiele sind aus, der Wahn geht weiter. Während die hellblauen Melancholiker sich einschiffen nach Buenos Aires, stehen wir auf der Straße. Es ist Freitagabend. Um uns herum ein Gewimmel von Fahnen, Perücken und bemalten Wangen. Aus einem Kleinwagen werden vier Fäuste gereckt.
Es ist alles etwas viel geworden, etwas viel Regression – bunte Klebebildchen, Wachsmalstifte, einfache Melodien. Weiß man, was nach dem Fußball kommt? Geht es schlicht zurück zum Beton? Das kommende Ende hat auch Vorteile: Man nimmt sich vor, nach dem Finale nicht mehr zu rauchen, man kommt wieder zu sich, es wird wieder Abende geben, die sich mit einem Film oder einem guten Buch abspielen. Und ohne Alkohol, Nikotin und Kartoffelchips.
Robert Gernhardt hat das Spiel nicht mehr sehen können. Vielleicht auch nicht wollen, wendet A. ein. Den Freitagabend lasse ich zu Hause ausklingen, entscheide ich. Solange im Fernsehen gefeiert wird, braucht man das ja nicht selbst zu tun. Die anderen stürzen sich entweder in den Prater, um in der Menge aufzugehen, oder gehen, wie sinnig, ins West Germany. Zu den Melted Men. Mir ist das zu viel Lärm, sage ich, von dem Kreischen beim Elfmeterschießen klingeln mir jetzt noch die Ohren.
Samstag: Robbie Williams trägt einen Deutschlandschal. Zumindest als Pappfigur in der Telekomfiliale. Einige Fanmeilen entfernt schiffen sich jetzt ganze Nationen ein. Wirklich ganze Nationen? So große Schiffe gibt es gar nicht. Dieses „Wir“, ist von der deutschen Mannschaft die Rede, ist ja sehr seltsam. Obwohl ich mich durchaus oft wie Arne Friedrich vor dem Argentinien-Spiel fühle, also nicht eingespielt und ohne großes Selbstvertrauen. Anderen geht es wie Klose, denen gelingt fast alles.
Das Nachmittagsspiel verfolgen wir, während wir einer Trendsportart anderer Art nachgehen: Scrabble. Nachher klappern wir einen Geburtstag ab, der sich auf die Wiese vor der Zionskirche gelegt hat, dann ziehen wir auf eine Dachterrasse in der Kastanienallee um. Rauchsäulen, Schwedenfeuer, verhallte Resultate. Und schon wieder Kindheitserinnerungen: Terrassenmieter D. nennt eine Hollywoodschaukel sein eigen. Auf Letzterer fühle ich mich wie 1986, damals in den großen Ferien, als Frankreich Brasilien im Elfmeterschießen schlug und ich schüchtern neben einer Campingplatzschönheit vor mich hin schaukelte.
Tristeza. Das Herumstehen hat sich vors Bergstübl verlagert, wo die Menschen geschickter gekleidet sind als gewöhnlich. Es ist ein lauer Sommerabend, K. möchte noch ins Weekend. Ins Weekend? Gar nicht mein Style, aber der Abstecher war versprochen, also ziehen wir los. Am Rosenthaler Platz schauen sich chinesische Budenbetreiber über einen Bildschirm huschende Wehrmachtssoldaten an. Zwei Penner singen „Nowhere Man“. In der Bank, wo wir letztes Geld ziehen, trägt eine Frau ein Tattoo auf dem Rücken, das sagt: Make Love Not Art.
Im Weekend wimmelt es von Fußballfans. Von Touristen und feschen Reisebüroangestellten. Affektierten Tänzerinnen. Fotohandys auf der Tanzfläche. Dann verwischt alles, Schemen im Dämmerlicht, Schattenrisse, es wird voll. Die Musik ist gut, sehr smooth, lazy, griffig. Ein lässiges Aufderstelletanzen setzt ein, der Ausblick ist fantastisch.
Im Aufzug nach unten ist das Licht unbarmherzig. Aschfahle Gesichter am Ende der Nacht. Draußen ist die Luft gut, letzte Gröler irren herum, dann die erlösende Stille der U-Bahn-Station. Der Sonntag ist Schweigen.
RENÉ HAMANN