ausgehen und rumstehen : Statt immer nur aufs andere Ufer zu glotzen, lieber mal am See Proletenwatching betreiben
Wer das Glück hat, eine Altbauwohnung unterm Dach zu bewohnen, die täglich ab ein Uhr mittags von der Sommersonne beschienen wird, der hat nicht viele Möglichkeiten, die Tage rumzubringen: Morgens schon alle Fenster schließen und mit schweren Vorhängen alles verdunkeln, dann im dustren Zimmer sitzen und erst abends gegen zehn, wenn ein kleines Lüftchen weht und es draußen wieder kühler wird als drinnen, die Fenster öffnen und raus. Aber wohin? Die Strandbars kennt man ja schon zur Genüge: Den weichsten Sand gibt’s am Wild West Strand Market, die meisten Verstrahlten gleich nebenan im Club 25, die romantischsten Pärchen im Kiki Blofeld. Aber immer nur so dasitzen und aufs andere Ufer glotzen, was soll das?
Im Osthafen hat eine französische Zigarettenfirma das Hausboot eines gewissen Luc vertäut. In der Beschreibung der Zigaretten-PR-Abteilung ist Luc ein total verrückter, aber herrlich verrückter Typ. Luc ist Kameramann, hat jahrelang prekär in Paris gelebt, ist irgendwie zu Geld gekommen, hat ein Boot ausgebaut und ist dann für ein Jahr verschwunden. Das Boot schippert jetzt, ohne Luc, auf deutschen Flüssen herum, liegt zurzeit vor MTV, und jeder soll sich eingeladen fühlen. Pourqoui pas?, denkt man sich da und radelt in der heißen Luft zu MTV. Aber Lucs Einrichtung wirkt etwas gewollt und verrät den absolut konformen Individualisten. Die großstadtromantischen Besucher oben an Deck kennt man schon von den Strandbars, der Erlebniswert ist also recht gering, alles scheint so sinnlos. Am nächsten Tag nimmt man sich vor, einfach abends zu Hause zu bleiben und alle Aktivitäten auf den Tag verlegen. Beim Rausgehen und Rumliegen lassen sich doch genauso wie beim abendlichen Ausgehen und Rumstehen interessante Beobachtungen machen.
Der Tegeler See zum Beispiel lädt in diesen Tagen wieder zum heiteren Proletenwatching ein. Es ist so schön, wie die Sitten und die Gebräuche der Jugendlichen über Jahrzehnte gleich bleiben! Und so beobachtet man die zarten Annäherungen männlicher Teenager an das andere Geschlecht: Während drei, vier Schöne mit gezierten Bewegungen ganz langsam ins Wasser gehen, ob der Kälte und Nässe schauern und Empfindlichkeiten zeigen, heißt es für den jungen Verehrer, Anlauf zu nehmen, mit einem Salto in den See zu springen und dabei möglichst viel Spritzwasser auf die Mädchen verteilen. Das gibt Stimmung, hysterische Kiekser, zärtliche Beschimpfungen! Beim erwachseneren Jungvolk scheint die Silberkette auf bloßer Haut das Männerschmuck-Must-Have der Saison zu sein. Läuft man aber zu dicht an den ruhenden Adonissen vorbei, fängt man sich leicht ein „Hey pass ma gefälligst uff mit die Sand da!“ ein.
Am schönen Liepnitzsee trifft man eher Naturliebhaber, alternative Jungfamilien und Studenten. Die Jugendlichen sind hier noch richtig goldig, alle schwere Raucher, aber Fantatrinker. Sie schleppen Radios mit eingebautem Schminkspiegel mit sich herum, und nach dem Schwimmen spielen sie tatsächlich in Bauchlage das gute alte „Mensch ärgere dich nicht“. Abends zurück in der heißen Stadt fühlt man sich ganz verloren, als sei man durch einen Tag am See schon ganz zum Landmenschen geworden.
CHRISTIANE RÖSINGER