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Archiv-Artikel

ausgehen und rumstehen Inmitten begehbarer Musik vom eigenen Schoßhund zerfleischt

Als ich, von Park Yun Min auf ein Lied im Radio aufmerksam gemacht, instinktiv den Lautstärkeregler betätige, brüllt mich der Taxifahrer an. Gefälligst fragen sollte ich, wollte ich etwas berühren, und so weiter. Er hört gar nicht mehr auf. Dann stimmt auch meine Schwester ein, welche die arg übertriebenen Grobheiten des Taxifahrers offenbar sexuell so erregen, dass sie ihm auf meine Kosten gefallen will: „Aber echt, du tickst ja wohl! Entschuldige dich mal bei dem armen Mann, du unmöglicher Spinner!“

Nach drei sehr langen Euro kommt der rollende Schauprozess in der Nähe des Kollwitzplatzes zum Stehen. Ich bin frei. „Rückzus fahre ich allein mit dem Taxi“, sage ich, um meiner Schwester mit bizarrem Badisch schon mal den Wind aus der Nachbesprechung zu nehmen. Ich hoffe, ich habe das richtig geschrieben. Jedenfalls kann man dieses „zus“ auch an „hin“, „rüber“, „runter“ und „rauf“ hängen, wo es dann jeweils die Funktion hat, aus einer kurzen eine etwas längere Richtungsangabe zu machen.

Die Badenser sind generell besessen von der Idee „zielgerichteter Bewegung in der Sprache“. Wo ein Preuße sein Auto parkt, parkt es der Badenser „hin“, schlägt ein Preuße wen zusammen, schlägt der Badenser ihn „her“. Diese Eigenart verleiht dem ansonsten so gemütlichen Dialekt eine gewisse Dynamik, die einen daran erinnert, dass die Region nicht immer nur satter, sonniger Hort des Stillstands war, sondern auch Brutstätte revolutionärer Ideen, Heimat so großer Radikaler wie Karl-Peter Heinzen und Gustav Struve. Über den Vegetarismus des Letzteren machte sich Alexander Herzen in seinen Memoiren lustig und zitierte ihn mit dem Satz: „Wissen Sie nicht, dass ein Mensch, der sich ausschließlich vegetarisch ernährt, seinen Leib in einem solchen Maße reinigt, dass er nach seinem Tode überhaupt nicht riecht?“

So schräg diese Begründung Struves ist, so beachtlich doch die Leistung, sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fleischlos zu ernähren. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie schwer es 1988 im Sauerland war. Bittere Auberginen und Blicke wie Fleischermesser von Kellnern, die man um Gemüse bat, waren an der Tagesordnung. Passend zu meinen Gedanken dringt aus dem Bauwagen, der dem Biergarten als Bar dient, Fugazi. „Repeater“ – die Platte, nach der dem gitarrenverzerrten Widerstand die Grandezza entwich, der letzte Blitz am Himmel.

Die Ankunft neuer Gäste unterbricht die Andacht. Herr von Milch, echter verarmter Stadtadel, nebst Freundin. Milch erklärt ansatzlos, der Nahostkonflikt sei zu lösen, wenn der Westen sich endgültig von fossilem Brennstoff unabhängig mache.

Dann wird es noch wirrer am Tisch. Meine Schwester berichtet von Räumen, die Sasha Waltz für ihr Tanztheater angemietet hat, die man aber auch „für eigene Projekte“ nutzen können soll. Park, die doch immer so vertraut war, spricht von Installationen und einer erwünschten „Begehbarkeit von Musik“. Ich fühle mich wie vom eigenen Schoßhund zerfleischt. Als ich das sage, wird gelacht. Na, immerhin. JENS FRIEBE