ausgehen und rumstehen : Nach einer langen Silvesternacht: einige allgemeine Anmerkungen zum Schlangestehen
Zum zivilisierten Ausgehen in Großstädten gehört eine besondere Art des Rumstehens – das geordnete Warten in einer Menschenschlange vor der Clubtür. Der Anblick bedeutet für Clubgängeraugen ein ambivalentes Zweierlei. Abschreckung: „Scheiße, warten.“ Und Verheißung: „Drinnen ist es sicher super.“
Im Unterschied zu anderen europäischen Städten sind auf Einlass wartende Menschenschlangen vor Clubs in Berlin eher die Ausnahme. Steht man in der Kälte und es bewegt sich nichts als die „Gästeliste“ brüllenden Wichtigtuer, die an einem vorbeimarschieren, geht man einfach woanders hin. Rigoros und in bestem Wissen, das vielseitigste Nachtleben der Welt im Rücken zu haben.
Früher vor dem E-Werk, als die Schlange selbst Teil des Ganzen, die Leute mit dem umgeschnallten Bauchladen vorbeikamen und Drogen und Essen verkauften, und alles viel ungeordneter und happinessmäßiger war, wurde trotzdem viel stärker selektiert. Die Schlange stand vor der Tür und war gleichzeitig Ausweis der Party drinnen. (Lieber Timo, abgesprochen war ein Text über die Schlangen vor den Clubs der Silvesternacht! Und du kommst hier mit dem E-Werk? Das ist seit Jahren zu! Was ist los? Anm. d. Red.)
Natürlich gibt es auch heute noch Schlangen. Verlässliche, wie die vor dem Club Berghain. Sie funktioniert mensaschlangengleich: Beim ersten Hinschauen irre lang, aber man weiß mit Bestimmtheit, langsam und in geregelten Abständen kommt man dran. Ein anderes Modell ist die mythische Schlange, die eigentlich wichtiger ist als der Club selbst. In Berlin wollte die Schlange vor dem Cookies oder dem ersten WMF so sein. Und es gibt noch ein paar undurchsichtige Schlangen, wie im letzten Sommer vor der Bar 25, wo man Türpolitik nicht verstand und bis zuletzt bei Nichteinlass absolut nicht klar wurde, ob man jetzt zu schlunzig oder zu schnöselig aussah. Problematisch sind die „So lala“-Schlangen vor dem Watergate, dem 103 oder dem Weekend. (Bin ich heute Morgen auf dem Weg nach Hause dran vorbeigekommen. Da drängelten sich ungefähr 150 Leute, und es ging nicht vor und zurück! Anm. d. Red.) Sie sind zu kurz, nicht existent und zu leicht zu umgehen. Es bräuchte also keine Strategien zur Vermeidung oder Verkürzung von Warteschlangen, wie es ein Forschungsgebiet in der Informatik zu beheben sucht. (Die Stauforschung kümmert sich um Staus, nicht um Schlangen! Anm. d. Red.) Das Berliner Nachtleben braucht dringend mehr Schlangen. Gesehen bei der Dave-La-Chapelle-After-Party vor ein paar Wochen. (Vor ein paar Wochen? Was war denn eigentlich Silvester bei dir so los? Anm. d. Red.) In der Menschenschlange stand jeder auf der Gästeliste, ohne gab es eh keinen Einlass. Genau richtig. Nicht Geld, sondern Ruhm und Ansehen waren die Eintrittskarte. Die Beteiligten waren ausnahmslos im Bewusstsein ihrer Wichtigkeit. Als jedoch die Zuständigen verlauten ließen, dass in der nächsten Stunde erst einmal niemand mehr herein käme, gab es ein Riesenhallo. So hatte man nicht gewettet. Unruhe, Handyzücken, irgendwen anrufen, der Einfluss hat. Endlich mal ein bisschen Kribbeln, die tolle Ernsthaftigkeit, mit der sich hier gehabt wurde, endlich auch mal ein bisschen Weltstadt. Das Distinktions- und Hierarchienkarussell, hier hatte es noch den Hauch von Wahrheit und Wahnsinn. Arme wurden gehoben, man war gewillt, zu überzeugen. Nehmt mich und nicht die. Als das Gerücht sich verbreitete, dass jetzt wirklich nur noch die rein kämen, die eine Einladung mit goldenem Punkt und obskuren Hacken darauf besäßen, war es aus. Traurig, geschlagen, aber im Bewusstsein, irgendwie dabei gewesen zu sein, stapfte man nach woanders. TIMO FELDHAUS