ausgehen und rumstehen : Das Fallen der Videowürfel oder vom samstagnachmittäglichen Rumstehen in Sportbars
Der erste Schnee! Es war kaum zu glauben. Dicke Flocken rieselten auf die herumirrenden Autos und lösten sich auf. Mit hochgeschlagenem Kragen eilten die Menschen Berlins durch die vorweihnachtliche Pracht, irrten durch den Kalender. War nicht eigentlich St. Martin? Wo frierende Kinder mit gebastelten Laternen herumziehen und betteln müssen? Und hieß es nicht eigentlich, mit dem Klimawandel würde es wärmer werden? Alles Propaganda, schien es. Worauf man sich verlassen konnte, war der Bundesligaspielplan. Samstag, 15 Uhr 30, Anpfiff im Wiener Blut. Das sich trotz des Schneefalls allmählich füllte.
Im Wiener Blut, einer großräumigen Punkkaschemme in der Wiener Straße, gibt es eine Großleinwand und einen Bildschirmkasten über der Theke. Das Publikum rekrutiert sich aus Postalternativen, aus Leuten also, die Ende der Achtzigerjahre jung waren und die Dead Kennedys hörten, schon damals zu spät, und dann nahtlos zu Grunge und Rapcore übergingen. Leute, die aus der unteren Mittelschicht kamen und dementsprechend geerdet blieben, abgeschlossenes Psycho- oder Soziologiestudium hin oder her. Es waren durchaus nicht nur Männer, es waren auch zahlreiche junge Frauen da, hinter mir stand eine Hellblondine, die kurzzeitig vor ihrem Freund und Mitbewohner geflüchtet war, um Werder Bremen zu sehen. Ihrem Bekannten erzählte sie, dass sie demnächst nach Rügen fahren würden, ihr Freund und sie, das sei ihr Geburtstagsgeschenk.
Draußen schneite es weiter. Rügen im November, dachte ich. In Rostock schien es aber trocken zu sein, überhaupt strahlten alle Rasenflächen ein sattes Grün aus, lediglich im Olympiastadion hätte man statt einer Mauer aus Verteidigern auch eine aus Schneemännern errichten können. Die Stadionleitung, erklärte der Reporter, hatte es versäumt, die Rasenheizung rechtzeitig anzustellen. Der Laden lachte. Ansonsten herrschte weitgehend Heterogenität im Wiener Blut – eine allgemein favorisierte Mannschaft war nicht auszumachen. Keine Mehrheit für Hertha, keine für Schalke 04 oder Dortmund (was in der ähnlich strukturierten „Milchbar“ in der Manteuffelstraße ganz anders aussieht). Nur die Bayern, die kamen natürlich schlecht weg. Umso schöner, dass sie verloren haben.
Nachmittägliches Herumstehen in Bars: Der vorrückende Winter trägt das Seine dazu bei, dass man bei heranrückender Dunkelheit gerne die Nestwärme einer Kneipe, die Atmosphäre aus fremden Menschen, unschuldigen Gesprächen, stickigem Zigarettenqualm und ersten Ausdünstungen aufsucht. Fußball ist natürlich auch ein prima Vorwand, um sich schon vor vier das erste Bier zu bestellen. Ist man noch berauscht vom Vorabend, stellen sich lustige Effekte ein: Man hört „Arbeitsfalle“ statt Abseitsfalle, man begeistert sich über Begrifflichkeiten wie „Videowürfel“ oder „Aufstützstafette“ oder fällt in anregende Plaudereien über die Selbstironie, die selbst vor Bayernkurven keinen Halt macht: „GEGEN DEN MODERNEN FUSSBALL“ steht da auf einem Banner.
Und nach dem Spiel geht man wieder, um halb sechs. Der Schneefall hat aufgehört, aber kalt ist es geblieben. Zu Hause wärmt der Ofen, und wenn man einen Fernseher hat, kann man die Spiele in komprimierter Form noch einmal schauen. Oder irgendwas anderes. Bis man wieder zum üblichen Wochenendtreiben rausmuss, so gegen Mitternacht. RENÉ HAMANN