ausgehen und rumstehen : Hinaus, dorthin, wo alle sind! Andere Alternative zur Novemberdepression gibt es nicht
Was für ein erbärmliches Wochenende! Draußen herrschten Dunkelheit und Nässe vor und in den Zimmern hatte sich die schwarze Krähe Novemberdepression breitgemacht. Man wollte noch nicht mal vom Fenster aus auf die Straße schauen, so ungemütlich war es. Und doch ist das Rausgehen, das Draußen-Enger-Zusammenrücken die einzige Lösung für solche Tage, muss doch das fehlende Sonnenlicht durch die aufmunternde Wirkung von Alkohol und Geselligkeit ersetzt werden.
Draußen dann ist es überall wüst und leer. Man geht auf schlecht besuchte Konzerte, in ranzige, zugige Bars, trinkt schale Getränke und jammert. Vielleicht sind wir in unserem Ausgehverhalten verwöhnt und abgestumpft zugleich, wollen immer wieder etwas Neues entdecken und sehen deshalb nicht das Gute, das so nah liegt?
Warum nicht mal etwas Verrücktes tun, warum nicht mal ins Billy Wilder’s am Potsdamer Platz gehen, direkt neben dem Sonycenter? Dort umschmeichelt großstädtische Lebendigkeit die wunde Seele, die Getränke schmecken besser als in der Torstraße und sind nicht wesentlich teurer und die Barleute sind nett. Wenn man nach Feuer fragt, bekommt man einen kleinen faltbaren Berlin-Stadtplan geschenkt. Ist das nicht herrlich, sich in der eigenen Stadt als Tourist fühlen zu können? Ist das nicht eine tolle Umkehrung des alten Diktums, unbedingt dorthin gehen zu müssen, wo noch keiner war? In einer Zeit, in der die Stadtzeitschriften in den Titelgeschichten ihr angebliches Herrschaftswissen über geheime Clubs, exquisite Mailverteiler und codierte SMS ausbreiten, ist es doch herrlich, sich ganz azyklisch zu verhalten!
Aber auch nachmittags kann man schon so viel unternehmen, dass man abends müde ist und gar nicht mehr rausmuss – „Afternooning“ nennt sich dieser neueste Trend aus England, der sich auch bei uns bald durchsetzen wird.
Die Massen, man möchte ihnen auf den ersten Blick allesamt dreistellige Autokennzeichen (OHV, LOS usw.) unterstellen, stürmten mit fiebrigen Augen durch die Eingänge des nur auf den ersten Blick unschönen Klotzes in Schmutzig-Rosa am einstigen Brachland um den Alexanderplatz. Die Menschen aus dem Umland hatten fiebrige Augen, als hätten sie noch nie einen Mediamarkt, einen H&M gesehen. Man glaubte das Wort des Jahres 89 „Wahnsinn, das ist alles Wahnsinn“ auf ihren aufgesprungenen Lippen zu lesen. Manche fotografierten sogar ein paar lose Backsteine, die auf der halb fertigen Außenterrasse lagen.
Im Erdgeschoss hatte sich ein hochaggressiver Kinderchor auf einer Showbühne aufgebaut, die unsympathischen Jungen und Mädchen intonierten mit schrillen Stimmen Vorweihnachtliches und bekannte Volkslieder. Überall in den Gängen und Läden wurde gedrängelt und gestoßen, es gab kein Innehalten, kein Ausruhen. Vor den Coffeeshops und Omacaféketten hatten sich lange Schlangen gebildet, als gäbe es dort Begrüßungsgeld, und auch der „Foodcourt“ im dritten Stock war völlig überlaufen. Hoch und runter fuhr man wie in Trance auf den Rolltreppen, taumelte willenlos in Läden und wieder hinaus.
Wird das nie enden, fragte man sich am Rande des Nervenzusammenbruchs, und von unten quiekten die schrecklichen Kinder in höchsten Tönen: „Horch, was kommt von draußen rein“. Das Repertoire des Kinderchors schien unerschöpflich. Doch hat alles einen Sinn. Abends konnte man zu Hause bleiben und den nächsten Ausflug, nachmittags Friedrichstraße, abends Hackescher Markt planen. CHRISTIANE RÖSINGER