„arisierungen“ : Mit Moral ist nicht zu kommen
Diese Zahl muss man sich doch noch einmal auf der Zunge zergehen lassen: In Berlin sind immer noch 16.000 Anträge auf die Rückgabe von Betriebsvermögen anhängig, die in der NS-Zeit Juden de facto abgepresst wurden. Ab und zu taucht in der Presse der prominentere Fall „Wertheim“ auf – für mehr reicht es in der Öffentlichkeit kaum. Und erstaunlicherweise ist die Forschung über die „Arisierungen“ in der Hauptstadt ebenso wenig vorangekommen. Deshalb ist der heute beginnende Kongress über die „Arisierungen“ so wichtig. Dass wenigstens das öffentliche Schweigen schwerer fällt.
KOMMENTAR VON PHILIPP GESSLER
Die Frage ist: Woher kommt diese geringe Beachtung des brisanten Themas? Die Antwort liegt auf der Hand: Viele ganz normale nichtjüdische Deutsche waren die Profiteure des großen Betriebe-Klaus, der mit dem Euphemismus „Arisierung“ nur unzureichend deutlich wird. Denn es waren tausende Verbrechen erster Güte, formal legalisiert vom Unrechtsstaat, der selbst davon profitierte. Viele Unternehmen, die heute noch auf dem Markt sind, machten mit der Übernahme der jüdischen Betriebe glänzende Geschäfte. Der Kongress hat die Chance, diesen Skandal noch einmal öffentlich zu machen.
Und hoffentlich kann die Tagung auch etwas anderes leisten, nämlich aufzuzeigen, dass nicht wenige Unternehmen, die sich damals am Judenraub gesundstießen, keine oder nur eine lächerliche Wiedergutmachung leisteten – der zweite Skandal, der aktuellere. Denn hier geht es um die heutige Geschäftspolitik dieser Unternehmen. Mit Appellen an die Moral, das zeigt der Fall „Wertheim“ und Karstadt, ist solchen Unternehmen nicht zu kommen. Sie hoffen, ganz offensichtlich, auf eine biologische Lösung des Problems.
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