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Archiv-Artikel

anrufungen europäischer subjekte etc. Die Europa-Initiative von Habermas und Derrida

Erfahrung von Verlusten

Was hätte der Text von Habermas und Derrida nicht alles sein können?! Zum Beispiel die allseits ersehnte Belebung der lahmen Verfassungsdebatte in Europa. Wir hätten gesagt: Ein Gespenst geht um – das Gespenst Europa. Auf den Weg geschickt von einer philosophischen Internationale. Stattdessen hat das Manifest (veröffentlicht in der FAZ vom 31. Mai) vor allem in Deutschland eine nahezu einhellige Ablehnung erfahren. Woran liegt diese teils schroffe Abwehr? Gerade vor dem Hintergrund des Verfassungsvorschlags des EU-Konvents sollte man noch einmal darauf zurückkommen.

Es beginnt bereits beim programmatischen Titel: „Die Wiedergeburt Europas“. Wieso, fragt sich der Leser, bedarf Europa einer Wiedergeburt? Bei der ersten Geburt kam ein Verwaltungsapparat heraus – geeignet, die funktionalen Erfordernisse einer ökonomischen Vereinigung zu bewältigen. Jürgen Kaube preist ebendiesen in der FAZ als große Erleichterung: Dieser kühle Brüsseler Mechanismus habe allen überzogenen Glücksvorstellungen eines politischen Gebildes eines voraus – er funktioniert. Aber genau das bestreitet Habermas. Seit dem „Brief der acht“ an George W. Bush funktioniere Europa nicht mehr. Dieser habe eine gemeinsame europäische Außenpolitik torpediert. Dieser Brief war der Sündenfall, er führte zur Vertreibung aus dem Verwaltungsparadies. Was in Europa hingegen schon funktioniere, so Habermas, das sind seine Bürger – ablesbar an ihren fulminanten Protesten gegen den Irakkrieg. Dieser Befund zeige die Notwendigkeit einer Erneuerung Europas als politische Formation an: die Wiedergeburt aus dem Geist der Straße. Dieses neue „alte Europa“ solle nicht auf funktionalen Imperativen basieren, sondern auf Überzeugungen. Europäische Politik bedarf einer europäischen Identität. Die meisten Kommentatoren übersehen aber, dass deren Kern nicht in all den positiven Gegebenheiten liegt, die nun überall aufgezählt werden, wie Säkularisierung, Menschenrechte, Marktskepsis usw. Habermas macht die Gemeinsamkeit des Kontinents vielmehr an etwas ganz anderem fest: an der Erfahrung des Verlustes (von Imperien, von Kolonialreichen, durch Kriege, durch den Holocaust).

Die europäische Identität resultiert demnach aus dem wiederholten Verlust von Identität. Sie ist also eine negative Identität, die in reflexiver Distanz zu sich selber steht, eine nichtidentische, eine nichtimaginäre – kurz, eine vernünftige Identität. Auf ihr ruht die Hoffnung des Philosophen.

Warum aber ist solch ein rationalisiertes Europa ein Gespenst? Warum wird diese Vorstellung wie ein Wiedergänger behandelt? Ein amerikanischer Historiker ortet darin eine „antikapitalistische Sehnsucht“, so seine Umschreibung für Kommunismus, während der Text lediglich die Beschreibung Europas als sozialdemokratisches Paradies ist. Vor allem aber in Deutschland findet man keinen Umgang mit dem hohen Ton der Schrift, als ob sein aufgeklärtes Pathos dringend abgewehrt werden müsste.

Jürgen Kaube rettet sich in die Brüsseler Kühle. Die meisten anderen Kommentatoren halten dem Text die Realität entgegen und denunzieren seine unzureichende Analyse derselben. Ja, man kann alles dagegen einwenden: Man kann der behaupteten „Zähmung des Kapitalismus“ den Siegeszug des Neoliberalismus entgegenhalten, dem europäischen „Respekt für den Anderen in seiner Andersheit“ den Aufstieg des Rechtspopulismus, man kann das „avantgardistische“ Kerneuropa kritisieren und dessen treibende Kraft, einen furiosen Antibushismus – und verfehlt dabei des Eigentliche. Denn um all das geht es nicht primär. Diese Einwände verkennen den Charakter des Textes.

Der Text ist ein Ereignis. Er ist eine Intervention. Man kann ihn also nicht nur inhaltlich beurteilen – und alles wiederlegen. Man muss auch seine operative Ebene erfassen. Der Text ist keine realistische Analyse – er ist das Gründungsmanifest dessen, was er beschwört. Er hat einen durchgehend performativen Charakter, der die europäische Diskussion, den „Selbstverständigungsprozess“ nicht nur einfordert, sondern damit auch zu vollziehen beginnt. Er ist eine Anrufung des europäischen Subjekts. Als solche ist der Text zu nehmen.

Mehrerlei ist bemerkenswert daran. Zum einen die Vorstellung, dass führende europäische Philosophen eine politische Formation auf der Ressource „Straße“ gründen wollen: Der Protest soll die legitimatorische Grundlage eines politischen Europas sein. Und die Philosophen sehen ihre Aufgabe darin, eine Katalysatorenfunktion zu übernehmen. Sie schließen sich kurz mit diesen Energien, diesem widerständischen Potenzial, um diese in die Politik weiterzuleiten. Denn die Politiker sind die Adressaten der Botschaft.

Zum anderen überrascht die Euphorie der Autoren, ihre Passioniertheit – sowohl weil diese ihrem Status als Großmeister widerspricht, als auch weil es doch erstaunt, dass auch eine reflexive Identität solche Leidenschaften mobilisiert. Offen bleibt, ob das gegen die Möglichkeit einer vernünftigen Identität spricht – oder dafür. Und offen bleibt vor allem, ob eine solche Identitätsstiftung einer postnationalen Entität funktionieren kann. Daran wird sich auch ermessen, welchen Status dieser Text letztlich erhalten wird. ISOLDE CHARIM