american pie : Der Zwergenwürfel
Trotz seiner geringen Körpergröße von 1,62 m ist Martin St. Louis der Star bei Tampa Bay Lightning
Ein Mann hat’s nicht leicht, wenn er 1,62 Meter groß ist. Vor allem nicht, wenn dieser Mann Eishockey spielt. Und besonders dann nicht, wenn er in der NHL aufs Eis geht, wo der durchschnittliche Kufencrack 1,85 m misst. Wenn Martin St. Louis während eines Spiels an der lang gezogenen Bank entlangfährt, auf der die gegnerische Mannschaft sitzt, dann weiß er, was er zu erwarten hat. „Zwerg“ oder „Wicht“ sind noch die nettesten Schmähungen, manche rufen auch: „Steh doch endlich mal auf!“
Nun aber hat sich der Zwerg zum Größten gemausert. St. Louis wurde erfolgreichster Scorer der Spielzeit und führte Tampa Bay Lightning zur zweitbesten Punktausbeute in der NHL. In die heute beginnenden Playoffs geht man als topgesetztes Team im Osten und der kleine Martin wird als Favorit gehandelt für die Wahl zur Hart Trophy, die an den wertvollsten Spieler der Saison verliehen wird.
Im sonnigen Florida wird der 28-jährige Flügelflitzer dafür wie ein Eisheiliger verehrt. Schließlich ist es noch gar nicht lange her, da waren die so genannten Bolts die Lachnummer der Liga. Erst im Jahre 1992 gegründet, trieb sich das Team zehn Jahre lang im Tabellenkeller der Southeast Division herum, nur einmal konnte man mehr Siege als Niederlagen einfahren. Sports Illustrated kürte die Lightnings zur miesesten Sport-Franchise im nordamerikanischen Profisport. Doch in der letzten Saison kam dann der Umschwung, Tampa Bay gewann völlig überraschend seine Division und erstmals auch eine Playoff-Serie, bevor man in der zweiten Playoff-Runde gegen die New Jersey Devils ausschied. Vor dieser Saison trauten die Experten Tampa Bay trotzdem nicht allzu viel zu: Zwar wurde allgemein davon ausgegangen, dass sie wieder die arg schwach besetzte Southeast Division gewinnen würden, aber dass sie als bestes Team aus dem Osten in die entscheidende Phase der Saison gehen würden, hatte niemand erwartet. In der ersten Runde der Playoffs trifft Tampa Bay nun auf die New York Islanders. Ausgerechnet das Team, gegen das man während der regulären Saison in vier Spielen nur einmal gewinnen und gerade mal sechs Tore schießen konnte.
Nun wird sich also zeigen müssen, ob aus den Bolts wirklich eine Spitzenmannschaft geworden ist. Hauptverantwortlich dafür ist der in der Eishockey-Hochburg Montreal aufgewachsene St. Louis. Er war der erfahrene Führungsspieler, den die talentierte, aber zu junge Mannschaft brauchte. Er selbst war trotz einer preisgekrönten Junioren-Karriere noch nicht einmal gedraftet worden, weil die Talentscouts zu oft das Maßband ausrollten. Während seiner ersten Jahre in der Liga wurde er immer wieder entlassen und von Team zu Team verschoben. In Tampa fand der Ungewollte schließlich ein Zuhause und eine Rolle. „Kleine Spieler“, sagt die unlängst in Rente gegangene Trainerlegende Scotty Bowman, „müssen spezielle Qualitäten entwickeln, um auf sich aufmerksam zu machen.“ St. Louis mag klein sein, aber ist so kräftig und stämmig, dass ihn Mannschaftskollege Fredrik Modin als „Würfel“ bezeichnet. Vor allem aber ist St.Louis ungemein schnell, hat eine unglaubliche Beschleunigung auf dem Eis und weiß, wo das Tor steht. 38 Treffer hat er erzielt – nicht schlecht für einen defensivstarken Spieler in der so genannten „Ära des toten Pucks“, in der die Torausbeute in der NHL immer weiter sinkt.
Der neue Erfolg des Publikumslieblings mit dem Kämpferherzen hat allerdings auch negative Begleiterscheinungen. Mancher der durch die Bank größeren und dadurch unbeweglicheren Verteidiger, denen St. Louis Knoten in die Beine gefahren hat, bediente sich daraufhin anderer Mittel, den flinken Torjäger unter Kontrolle zu bekommen. Lightning-Coach John Tortorella beklagte sich öffentlich, dass sein Star zu oft unfair angegangen wurde. „Ich bin froh, dass wir da heil rausgekommen sind“, so Tortorella nach dem letzten Spiel der regulären Saison, „wir sind gesund geblieben, und nun fängt der Spaß an.“ Der dürfte dann auch nur getrübt werden, wenn Martin St. Louis zu dicht an der gegnerischen Bank vorbeifährt. THOMAS WINKLER