american pie : Eine Stadt hüllt sich in Flammen
Mit brachialen Mitteln versuchen die Calgary Flames, Überraschungsteam der NHL-Play-offs, den Stanley Cup endlich wieder nach Kanada zu holen
Zehn Jahre ist es her, dass mit den Vancouver Canucks eine kanadische Eishockeymannschaft im Finale um den Stanley Cup stand. Elf Jahre ist es her, dass mit den Montreal Canadiens eine kanadische Mannschaft den Stanley Cup gewann. Und 15 Jahre ist es sogar her, dass die Calgary Flames zuletzt den Stanley Cup holten. Kein Wunder also, dass die Stadt im wilden Westen des Landes Kopf steht, seit die Flames das erstaunliche Kunststück vollbrachten, ins NHL-Finale gegen Tampa Bay Lightning vorzudringen, wo es vor dem morgigen fünften Spiel der Best-of-seven-Serie in Tampa Bay 2:2 steht.
Ein großer Teil der Bevölkerung Calgarys geht derzeit nur im, wie sich das gehört, flammend roten Flames-Trikot aus dem Haus, was zum Beispiel in Tampa undenkbar wäre, schon allein aus klimatischen Gründen. Brave Bürger färben den Rasen vor ihrem Haus knallrot ein, aus jedem Auto flattern Fähnchen mit den Klubfarben, und die New York Times hat sogar einen Priester entdeckt, der seine Predigt – Gott segne unsere Flammen – im roten Jersey hielt. Bei den ersten beiden Auswärtsspielen war nicht nur die Arena in Tampa mit fast 22.000 Menschen gefüllt, sondern mit rund 20.000 Leuten auch der Saddledome von Calgary, wo der 4:1-Sieg und die 1:4-Niederlage live auf der Videowand übertragen wurden. Zwei ausverkaufte Hallen bei einem Spiel – ein Novum in der National Hockey League.
Doch nicht nur in Calgary ist die Begeisterung überwältigend, auch das restliche Kanada fiebert mit den Flames. Die TV-Einschaltquoten sind dreimal so hoch wie in den USA, selbst die Anhänger in Vancouver, Ottawa, Montreal, Edmonton oder Toronto drücken jetzt dem sonst herzlich verabscheuten Rivalen die Daumen. „Erinnert euch, Calgary ist Kanada“, sagt Flames-Coach Darryl Sutter, „und das ist unser Spiel.“ Ein Tatbestand, der zuletzt leicht in Vergessenheit geraten konnte. Fast alle kanadischen Teams haben große wirtschaftliche Probleme, wegen ihres schlechten Dollarkurses und der Steuergesetze fehlt ihnen Finanzkraft, die besten Spieler wandern in die USA ab, die Teams aus Quebec und Winnipeg sind schon vor Jahren ins südliche Nachbarland umgezogen. Ein Stanley-Cup-Triumph der Calgary Flames wäre Balsam für die gequälten kanadischen Eishockeyseelen.
Dass es ausgerechnet dieses Team ins Finale schaffen würde, hätte noch vor Beginn der Play-offs kaum jemand für möglich gehalten. Während mit Tampa Bay das beste Team des Ostens standesgemäß in die Endspiele einzog, waren die Flames im Westen nur Sechster und erreichten nach sieben sehr mageren Jahren erstmals wieder die Ausscheidungsrunde. Dann jedoch servierten sie nacheinander die drei besten West-Mannschaften Vancouver Canucks, Detroit Red Wings und San Jose Sharks ab und verdienten sich redlich die Chance auf den Stanley Cup. In jeder Serie stand es nach vier Spielen 2:2, dann gewannen die Flames Spiel fünf in fremder Halle und setzten sich am Ende durch. Ein Verlauf, der ihnen auch im Finale genehm wäre.
Das Eishockey, das Calgary spielt, ist urkanadisch. Körpereinsatz und Kampfkraft geht vor spielerische Feinheit, mit gewaltigen Bodychecks wird versucht, das filigrane Kombinationseishockey zu stoppen, das Tampa Bay Lightning bevorzugt. Zweimal gelang es, den Angriff mit Martin St. Louis, dem besten Scorer der NHL-Saison, Vincent Lecavalier und Brad Richards auf diese Weise zu stoppen und die jeweiligen Matches 4:1 bzw. 3:0 zu gewinnen, vor allem in Spiel vier am Montag ging die Taktik jedoch nach hinten los. Nach zwei Strafen für die Flames in den ersten Minuten nutzte Tampa seine 5:3-Überzahl zum 1:0 durch Brad Richards und verteidigte dieses Resultat bis zum Ende. Calgary vermochte den großartigen Keeper Nikolai Khabibulin, „The Bulin Wall“, nicht zu überwinden und beendete seine Aufholjagd selbst vorzeitig, als sich Ville Nieminen knapp vier Minuten vor Schluss mit einem brutalen Bandencheck gegen Lecavalier eine Fünfminutenstrafe einhandelte. Für Richards war es das siebte spielentscheidende Tor in den Play-offs – neuer NHL-Rekord.
Für die Liga sind solche torarmen Spiele im Finale natürlich das pure Gift, da sie einen Trend zur Defensive bestätigen, der vor allem bei den Sportfans in den USA die Eishockeybegeisterung trübt. Dass der NHL zudem vor der nächsten Saison ein imageschädigender Arbeitskampf zwischen Teambesitzern und Spielern droht, macht die Sache nicht besser. Den Fans in Calgary sind solche Kleinigkeiten naturgemäß ziemlich egal. Sie scheuen selbst kein Mittel, um ihrem Team zum Erfolg zu verhelfen. Die San Jose Sharks durften zum Beispiel bei ihrem Gastspiel in Calgary erleben, wie eine ganze Flotte von Trucks um sechs Uhr früh vor ihrem Hotel ein infernalisches Hupkonzert veranstaltete. MATTI LIESKE