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Archiv-Artikel

american pie Auf den Baseball-Play-offs lasten zwei Flüche

Hoffnung für die Hoffnungslosen

Nirgendwo sonst auf Gottes weiter Erde wird Baseball so religiös verfolgt wie in Boston und Chicago. Nirgendwo sonst aber wartet man auch so verzweifelt auf Meisterschaften. 85 Jahre ist es her, dass die Boston Red Sox zum letzten Mal die World Series gewannen, gar 95 Jahre sind die Chicago Cubs schon ohne Titel. Nun, da beide Teams die Play-offs erreicht haben, die in der vergangenen Nacht begonnen haben, träumen nicht nur deren Anhänger von einer Endspiel-Serie Red Sox gegen Cubs. Auch den Verantwortlichen der übertragenden Sender würde eine World Series mit zwei der traditionsreichsten Klubs satte Einschaltquoten bescheren.

Im Laufe der Jahrzehnte haben sich in Boston wie in Chicago Dutzende an Anekdoten und Theorien angesammelt, die die vergeblichen Versuche, den Titel zu holen, erklären sollen. Die bekannteste ist zweifellos „The Curse of the Bambino“, der die Red Sox verfolgt. Jener „Fluch des Bambino“ ereilte Boston, als man im Jahre 1920 einen jungen Pitcher, der zwei Jahre zuvor noch entscheidend mitgeholfen hatte die fünfte Meisterschaft zu gewinnen, für die damals astronomische Summe von 100.000 Dollar nach New York verscherbelte. Dort wurde der eher klobige Geselle mit dem Babygesicht zum Schlagmann umgeschult und donnerte fortan Homeruns im Dutzend aus dem Stadion. Sein Name: George Herman Ruth, genannt Babe oder auch „The Bambino“. Im weiteren Verlauf der Geschichte wurden die New York Yankees der reichste Profisport-Klub der Welt und holten bis heute 26 Titel. Die Red Sox dagegen erreichten seitdem gerade viermal eine World Series und verloren jede einzelne von ihnen auf tragische Weise im entscheidenden siebten und letzten Spiel. Längst hat sich im Fenway Park, dem berühmten, mitten in Boston liegenden Stadion der Red Sox, eine Stimmung etabliert, die zwischen Verzweiflung und Melancholie changiert und von jeder Niederlage neu angeheizt wird.

Vergleichsweise jung ist dagegen der Fluch, der über Wrigley Field, der Heimstatt der Chicago Cubs lastet. Man schrieb das Jahr 1945, als Billy Goat Sianis, Betreiber der Billy Goat Taverne, Einlass begehrte zum vierten Spiel der World Series gegen die Detroit Tigers. Mitgebracht hatte er als Glücksbringer seine Ziege Murphy. Mit den Worten „Die Ziege stinkt“ wurde ihm der Zutritt verwehrt, woraufhin Sianis fluchte: „Nie wieder werden die Cubs gewinnen!“ Er sollte Recht behalten.

Murphy und Billy haben längst das Zeitliche gesegnet, der Fluch aber ist lebendig wie eh und je. 1984 versuchte man ihn zu exorzieren, indem man Sianis’ Neffen erlaubte, eine Ziege namens Sokrates zum Eröffnungsspiel aufs Spielfeld zu bringen. Der Erfolg solcher Maßnahmen blieb bisher aus.

Nahezu einem Jahrhundert Frustration zum Trotz versammeln sich zu jedem Heimspiel wieder die Fans im Wrigley Field. Das altmodische Stadion mit seinen berankten Outfield-Begrenzungen gilt als Baseball-Kathedrale mit einer geradezu spirituellen Atmosphäre, und die Spiele sind selbst dann ausverkauft, wenn die Cubs im Tabellenkeller herumgurken, was nicht selten vorkommt. Dann feiern die Fans eben fröhlich die Unzulänglichkeiten ihrer Profis.

Diese Nonchalance wird voraussichtlich auch nötig sein, denn ins Viertelfinale gegen die Atlanta Braves, die die reguläre Saison als erfolgreichstes Team abgeschlossen haben, geht das junge Cubs-Team als krasser Außenseiter. So steht zu befürchten, dass Murphys Fluch noch eine Weile aktuell bleiben wird. THOMAS WINKLER