american pie : Der große Wurf
In der gebeutelten Metropole Detroit schwingen sich die Baseball-Profis der Tigers zu bemerkenswerten Taten auf
Das Märchen vom Aschenputtel ist auch in den USA bekannt. Dort heißt die Taubenfreundin allerdings Cinderella und kommt nicht nur in Kinderbüchern, sondern auch in Disneyfilmen und im Sport zum Einsatz. Denn nichts liebt der amerikanische Sportfan so sehr wie den David, der den Goliath niederstreckt, den Underdog, der den übermächtigen Favoriten besiegt.
Die aktuelle Cinderella-Story schreiben die Detroit Tigers. Die haben nach 22 Jahren wieder einmal die World Series, die Endspielserie im Baseball, erreicht. Dabei hatten die Tigers die letzte Saison noch im Tabellenkeller beendet und in den vergangenen 13 Jahren so oft verloren wie kein anderes Team in der Major League Baseball (MLB). Wenig überraschend löste der abschließende 6:3-Sieg gegen die Oakland A’s am Samstag eine rauschende Spontanparty in den nächtlichen Straßen Detroits aus. Die 10.000 Eintrittskarten, die am Montag in den freien Verkauf kamen, waren innerhalb von dreißig Minuten ausverkauft.
Dabei drohte das Märchen von den Mauerblümchen aus Detroit zwischenzeitlich verfrüht zu scheitern. Denn in den letzten Wochen der Saison handelten sich die Tigers Niederlage auf Niederlage ein, drohten beinahe einen komfortablen Vorsprung zu verspielen und retteten sich gerade noch so in die Playoffs. Dort allerdings trumpften sie auf: Das Auftaktspiel gegen die New York Yankees ging noch verloren, doch seitdem ist Detroit ungeschlagen und räumte zuerst die scheinbar übermächtigen Yankees und anschließend auch noch Oakland auf dem Weg in die World Series souverän aus dem Weg. Vor allem die Pitcher sind das Prunkstück der Tigers: Dank eines trotz seiner 41 Jahre sensationell werfenden Kenny Rogers und den Nachwuchspitchern Justin Verlander und Jeremy Bonderman hat man die beste Defensive der verbliebenen Playoff-Teams. Und so bestätigen die Tigers wieder einmal den alten Spruch: Mit Offensive gewinnt man Spiele, mit Verteidigung gewinnt man Meisterschaften.
„Im Trainingslager hatten wir nur eine Menge gute Spieler, aber noch kein gutes Team“, verkündete ein vor Rührung weinender Trainer Jim Leyland, „jetzt haben wir ein gutes Team und darauf bin ich stolz.“ Und nicht nur er. Ähnlich wie hierzulande anlässlich des Erfolgs von Fußballmannschaften in einer gebeutelten Stadt wie Gelsenkirchen oder Cottbus für einige Wochen die Realität ausgeblendet wird, beschwören nun die Kolumnisten der Detroiter Zeitungen, die Tigers mögen „eine ökonomisch und emotional deprimierte Region auf ihre Schultern heben“. Tatsächlich hat die von der Autoindustrie abhängige und entsprechend kränkelnde Stadt nur noch auf sportlichem Gebiet Grund zum Lokalpatriotismus: In den letzten Jahren mussten sich die Detroiter allerdings mit den Erfolgen der traditionell um die Titel mitspielenden Eishockey-Profis von den Red Wings und den basketballernden Pistons begnügen. Nach den Tigers müssen nun nur noch die Football spielenden Lions von chronischer Erfolglosigkeit erlöst werden, dann könnte es womöglich auch mit der Stadt selbst wieder aufwärtsgehen.
Für die World Series ist das Schneewittchen jetzt plötzlich sogar der haushohe Favorit. Denn sowohl die New York Mets als auch die St. Louis Cardinals, die momentan noch den künftigen Gegner ausspielen, sind von Verletzungssorgen geplagt, haben kaum noch verlässliche Pitcher im Angebot und ihre sonst gefährlichen Schlagmänner werden von großen Leistungsschwankungen geplagt. Die Tigers dagegen werden, bevor die World Series am kommenden Samstag in Detroit beginnt, eine Woche Pause genutzt haben, um alle Blessuren auszukurieren, und haben zudem Heimrecht in einem womöglich entscheidenden siebten Spiel. Es sieht ganz danach aus, als sollte dieses Märchen tatsächlich mit einem Happy End zu Ende gehen.
THOMAS WINKLER