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Archiv-Artikel

als eisbrecher auf deutschlands radwegen von TOM WOLF

Es jährt sich der März, doch trotz meteorologischen Frühlings hat Väterchen Frost das Land fest im Griff. Wann, fragt eine radfahrende Nation, werden die spröden, glasharten Eisbeläge auf den notorisch ungeräumten Fahrradwegen, welche die bei Unfallärzten so beliebten Splitterbrüche hervorrufen, endlich der Vergangenheit angehören? Eduard Mörike vom Wetterdienst des Stuttgarter Klassik-Radios versicherte uns glaubhaft, den Frühling bereits läuten gehört zu haben, ja er werde, ich zitiere wörtlich: „balde kommen“. Fahren Sie trotzdem immer auf Sicht und vermeiden Sie hastige Lenkbewegungen, damit Ihnen nicht jener klassische jähe Sturz schräg nach vorn über die Radgabel widerfährt, der mich gestern ereilte.

Vorbei sind leider die glorreichen Zeiten der Klassik, in denen man noch mit beiden Füßen auf dem Eisboden schlitterte beim Radfahren. 1817, fünfzehn Jahre bevor Goethe an Herzversagen starb, erfand der badische Forstmeister Carl Friedrich Freiherr von Drais ein hölzernes Zweirad mit Lenkstange und nannte es Draisine oder Drais’sches Veloziped. Auch viele Mädchen hießen fortan Draisine, denn das Laufrad wurde rasch weltberühmt und erfreute sich gerade im Winter starker Beliebtheit.

Es hatte mit eisernen Metallbändern beschlagene hölzerne Speichenräder und wog etwa drei Zentner. Das verlieh dem Gefährt eine gewaltige Bodenhaftung. Geradezu eisbrecherisch war die Durchschlagskraft dieser pedallosen Ur-Fahrräder auf frostigem Grund. Der erste deutsche Radweg von Weimar nach Jena, den die meisten der frühen Drais’schen Velozipedisten nur in bergab führender Richtung befuhren, musste allein zwischen 1825 und 1832, dem Todesjahr des unvergessenen Weimarers, dreizehnmal neu gepflastert werden.

Spezielle aus Nashornleder gewirkte Überschuhe sicherten das normale Schuhwerk des Laufradfahrers bei der beidseitig abgestützten winterlichen Eisbrecherfahrt. Kräftige, von einer trainierten Becken- und Oberschenkelmuskulatur begünstigte, froschartige Antriebsbewegungen der Beine leisteten dem Radler zu Anfang Vorschub, bis er eine vom jeweiligen Straßenzustand und seiner Kraft abhängige Endgeschwindigkeit erreicht hatte. Anschließend konnte er, besonders bei vereistem Grund, etwa auf der Oberfläche von Seen, Teichen oder kleinen Flussläufen, eine nach der Formel s=vt leicht zu errechnende Strecke mit wenig weiterem Kraftaufwand zurücklegen.

Selbst Goethe soll des Öfteren seine Drais’sche „Laufmaschine“ bestiegen haben, die ihm sein in allen Sportarten – sogar im Bogenschießen – bewanderter Freund Eckermann nahe gebracht hatte. Einmal kam er auf diese Weise über die gefrorne Ilm bis zu seinem Gute Oberroßla, wo er jedoch, des absoluten Lenkverbotes auf vereisten Flächen uneingedenk, tierisch hingebrettert sein muss. In die „Tag- und Jahreshefte“ hat er’s eingearbeitet, dies unvergessliche Erlebnis:

Aber, aus eisischem Gleise gedrängt, irrte das knarrende Rad; es stürzt’ auch sein Fahrer in Schanden. Jetzt noch, des Nachts, wälzet ein Feuerrad sich übers Hinterteil ihm.

Genau so hab ich gefühlt! Ungebrochene, gut gepolsterte Klassik.