Zwischen den Rillen: Alles bleibt eins
■ Rave und Professionalisierung: 808 State
Eigentlich hatte man sie vergessen. Mit Hochachtung gedachte man ihrer, aber auf eine neue Platte von ihnen hat niemand gewartet. Ohne besonderen Promovorlauf, mit einem bescheidenen Erfolg der vorab veröffentlichten Single im Rücken, ist nun, nach vier Jahren Ruhe, das fünfte Album von 808 State erschienen.
Im Namen der Band aus Manchester steckt nicht nur die Bezeichnung einer Rhythmusmaschine der Firma Roland. Darin verborgen ist auch die Jahreszahl 1988, jener heute mythisch erscheinende Summer Of Love, in dem die britische Jugend infiziert wurde von in Detroit und Chicago kurz zuvor entstandener House-Musik. Rave, Ecstasy und Smiley-Sticker bewegten nicht nur die Jugend, sondern brachten auch die Musikindustrie ins Schwitzen. Plötzlich war eine Zielgruppe entstanden, die hin und weg war von einer Musik, die ohne Produktions- und Promotionetats, ohne Markt- und Imageanalysen gemacht wurde. Und das von Leuten, die überhaupt kein Instrument spielen konnten, die nachmittags im Jugendzimmer ein Stück aufnahmen, es nachts in ihren Lieblingsclub mitnahmen und selbst drauf tanzten. Produzenten ohne Gesicht, ohne Namen, die man lancieren und durchsetzen konnte.
808 State waren mittendrin. Ihr Stück „Pacific State“ vereinigte die damals notwendigen Features. Ein memorierbarer Akkordwechsel am Anfang, ein nicht zu schneller 4/4-Beat. Das Stück taucht heute noch in allen DJ-Alltime-Top-Ten auf und ist darüber hinaus der erste Housetrack, der in die englischen Verkaufscharts kam. Dieser Erfolg führte schon früh zum Verlust einiger charakteristischer Eigenschaften. Das alte Copyright-Ding tauchte wieder auf, als es zwischen Gerald Simpson (A Guy Called Gerald), Mitglied der frühen 808 State, und der Band Streit über die Rechte an dem Hit gab. Damit war der Mythos dahin von Techno als frei flottierendem Mix aus Allerweltsmelodien und unpersönlichen Maschinensounds, die nur auf der Tanzfläche, das heißt unter der Mithilfe von ALLEN, zu einer funktionierenden Musik werden.
Damit hängt der andere Aspekt zusammen. Nach dem aus dem Nichts entstandenen Erfolg von „Pacific State“ wurden 808 State von WEA unter Vertrag genommen, und es wurde ihnen gesagt, daß zu einer „richtigen“ Band und zum „richtigen“ Erfolg selbstverständlich Live-Auftritte gehören. So wurde das damals noch vier-, inzwischen dreiköpfige Projekt zum ersten Techno-Live-Act. Heute erfolgreiche Gruppen wie Chemical Brothers, Underworld, Leftfield schulden diesem Rösselsprung (von Techno-Produktion zu Rock-Präsentation) alles.
Trotzdem blieb 808 State eine coole Angelegenheit. Das Artwork ihrer Platten gaben sie in die Hände der besten Grafiker (Farrow, Johnson/Pannas), die den technologischen Aspekt ihrer Musik kongenial umsetzten; und auf ihren Covern nimmt auch heute noch die Liste der benutzten Maschinen breiten Raum ein. Der Crossover allerdings war nicht mehr abzuwenden. Als uns 1990 Kate Moss vom Titel des Trendmagazins The Face anstrahlte und damit den „dritten“ Sommer der Liebe verheißen sollte, war schon alles in festen Bahnen. 808 State wurden von den ganz Großen als Remixer angeheuert, und auf ihrem Album „Ex:el“ sang die Sängerin der isländischen Indieband The Sugarcubes, eine gewisse Björk Gudmundsdottir.
Zwischen Großpop und Alternative Nation, zwischen avantgardistischen Video-Clips und schlammigen Open Airs tummelten sich 808 State fortan als integraler Bestandteil einer Popmaschinerie, die keinen Unterschied mehr kennt zwischen Produktionsweisen und den Eigenarten von Unter- und Unterunterszenen. Alles eins.
Alles das hört man auf dem neuen Album von 808 State. Das Intro streift kurz das Atonale, bevor mit „Bond“ ein langsamer, an Frühachtziger-Dark- Wave erinnernder Song beginnt. Als Sänger wurde hier Doughty engagiert, der Frontmann der US-Postgrungetruppe Soul Coughing. Natürlich ist es bezeichnend, daß 808 State auf ihn beim letztjährigen Glastonbury-Festival aufmerksam wurden, einem jener typisch britischen Alle-mögen-alles-Großveranstaltungen. Später auf dieser Platte taucht noch James Dean Bradfield auf, Sänger der tragischen Band Manic Street Preachers, deren Rhythmusgitarrist seit eineinhalb Jahren verschwunden ist.
Auch „Lopez“, dem Bradfield seine Stimme leiht, ist ein pathetisch klingendes Überbleibsel aus Zeiten, in denen man Platten von Bands wie Flock Of Seagulls kaufen zu müssen meinte. Aber es gibt auch weniger seltsam prätentiöse Stücke wie „Joyrider“, von dessen Pianoriff man die beliebte Ibiza-Gänsehaut bekommt, oder wie „Azura“ mit den derzeit unvermeidlichen Drum 'n' Bass-Anleihen. „Don Solaris“ zeugt in jedem Moment von der vielleicht unvermeidbaren Krankheit älter werdender Popmusiker, für ihr Können, „gute Musik“ zu machen, anerkannt werden zu wollen. Entstanden ist dadurch ein genreübergreifendes Ungetüm, das jenen die Popwelt erklären kann, die sich aus den genreeigenen Entwicklungen schon vor längerem ausgeklingt haben. Martin Pesch
808 State: „Don Solaris“ (ZTT/ Wea)
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