: Zur Verwendung des Begriffs Getto
■ durch Innensenator Schönbohm
Gettos sind nicht freiwillig gewählte Aufenthaltsorte. Sie waren es nicht im 16. Jahrhundert, als sie erstmals gegen die jüdische Minderheit zu deren Aussperrung eingesetzt wurden, und sie sind es auch nicht in unserem Jahrzehnt in Berlin, wo als Folge von Migration, Wohnungs- und Sozialpolitik Kieze entstanden sind, die oberflächlich betrachtet etwas mit Gettos gemeinsam haben: die Konzentration von Menschen nichtdeutscher Herkunft. „Dort befindet man sich nicht in Deutschland“, meint Herr Schönbohm. Dies allerdings zeigt, daß er solche sogenannten Gettos nicht besucht. Wenn er dies nämlich täte, würde er bemerken, daß das Straßenbild in diesen Gebieten einerseits durch das lebhafte Familien- und Geschäftsleben von zugewanderten Menschen aus der Türkei und anderen Ländern bestimmt ist und andererseits von verelendeten Gruppen deutscher Herkunft, die als Obdachlose und verwahrloste Trinker oder Drogenabhängige das Bild des Gettos mitprägen. Es handelt sich in solchen Gebieten nämlich nicht um ethnische Gettos, sondern um soziale Gettos, in denen Migranten mit verelendeter deutscher Bevölkerung gemeinsam leben und aus denen sich jeder entfernt, der es sich leisten kann. Die meisten Bewohner sind nicht freiwillig hier, sondern weil sie an den billigen Wohnraum, an ihr Geschäft, an eine öffentliche soziale Versorgung und an nachbarschaftliche Sozialnetze gebunden sind, die ihr Überleben sichern.
Es ist sehr kurzsichtig, in einer Gesellschaft, die immer weniger bereit und in der Lage ist, soziales Elend aufzufangen, abfällig über das „Getto“ zu sprechen, das für viele BewohnerInnen etwas leistet, was der Staat nicht bieten kann: gegenseitige Hilfe bei der Beaufsichtigung der Kinder, bei der Beratung über die Sitatuion der Kinder in Schule und Ausbildung, nachbarschaftliche Hilfe im Umgang mit Ämtern, Austausch von Informationen über billige Einkaufsmöglichkeiten, gute Ärzte, hilfreiche Sozialarbeiter, kurze Wege zu kulturell wichtigen Einrichtungen wie Moscheen, Videoläden, Gastronomie, Zeitungsläden mit breitem türkischsprachigem Angebot, Textilläden mit religiös geprägter Kleidung, Vereinen, die ein interkulturelles Angebot haben usw. Das Getto ist – im Gegensatz zu Herrn Schönbohm selbst – auch in der Lage, in der Gesellschaft unbeliebte Randgruppen zu tolerieren und NeueinwanderInnen zu integrieren, ihnen die wichtigsten Wege in der neuen Gesellschaft zu zeigen, sie zu akzeptieren, ihnen Verständnis zu zeigen, den Start in der Fremde zu erleichtern.
Was das Getto allerdings nicht selbst leisten kann, ist die Verbesserung der materiellen Lage, die Veränderung des Arbeitsmarktes und den Abbau der Diskriminierung dieser Lebensform. Es kann auch nicht allein dafür sorgen, daß alle seine BewohnerInnen fließend Deutsch lernen, weil dies abhängig ist vom Bildungssystem und von der Chance der BewohnerInnen, einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz in deutscher Umgebung zu bekommen, eine Chance, die ein größerer Teil überhaupt nicht hat.
Gettos sind Teile unserer Gesellschaft, in denen sich deren Strukturfehler abbilden: die Unfähigkeit zum Ausgleich der ungleichen Verteilung von Reichtum und Lebenschancen und die Unfähigkeit, unangepaßte Gruppen einzubeziehen. Dies gilt keineswegs nur für die Gruppe der Migranten.
Riza Baran, MdA
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