: Zum Beispiel Tunesien
Auf der Wertschätzungsskala des Westens rangiert das arabische Land am Mittelmeer ganz weit oben – obwohl es „Schurkenstaaten“ wie dem Irak oder Libyen in vielem sehr ähnlich ist. Eine Reportage aus der nächtlichen Wüste am Vorabend des Krieges
von TONI KEPPELER
Im Sommer erreichen die Temperaturen in der Sahara im Süden Tunesiens über sechzig Grad Celsius im Schatten. Eine rein theoretische Zahl, denn es gibt dort keinen Schatten. Ich bin deshalb im europäischen Winter in die Wüste gefahren. In dieser Zeit erscheinen die Temperaturen angenehm: zwanzig bis 25 Grad am Tag. Trotzdem ist die Sonne unerbittlich. Obwohl sie kaum wärmt, trocknet sie das Gehirn aus. Sie lässt dich nicht schwitzen, und trotzdem hast du ständig das Bedürfnis, zu trinken. In der Nacht sinkt die Temperatur auf unter null Grad. Im Körper hält sich die Kälte bis in den späten Morgen hinein. Erst dann, gegen zehn Uhr und nach ein paar Kilometern Fußmarsch, ist sie verscheucht.
Auch das politische Klima war frostig in diesem Winter. US-Präsident George W. Bush bereitete den Krieg gegen den Irak vor und meine vier Begleiter – arabisierte Berber – rechneten jeden Tag mit dem Angriff. Abends am Lagerfeuer, wenn es schon dunkel war, packte Monsieur Mouldi ein altes, mit Klebestreifen zusammengehaltenes Kurzwellenradio aus und suchte nach einem arabischen Sender, um herauszufinden, ob es schon so weit war.
Tunesien gehört wie Libyen oder der Irak zu jenen arabischen Staaten, in denen nach der Kolonialzeit die Monarchen gestürzt wurden und eine scheindemokratische Despotenherrschaft entstand. Doch ganz anders als der Irak ist Tunesien im Westen beliebt. Es verdankt diesen Umstand der Tatsache, dass es nach einer kurzen Phase sozialistischer Wirtschaftsexperimente (1962 bis 1969) zum afrikanischen Musterschüler von Weltbank und Internationalem Währungsfonds wurde.
Das Land ist heute nicht mehr nur einer der weltweit größten Dattelproduzenten. Im Süden werden Phosphat-, Erdöl- und Erdgaslagerstätten ausgebeutet, im Norden erwirtschaften gut ausgebildete, aber schlecht bezahlte Textilarbeiterinnen über dreißig Prozent der Exporterlöse. Die Tourismusindustrie lockt jährlich über vier Millionen Pauschalurlauber ins Land. Beim Weltwirtschaftsforum im Jahr 2000 wurde Tunesien als eine der dynamischsten und liberalsten Volkswirtschaften Afrikas gefeiert.
Tunesien wird von westlichen Regierungen geliebt, obwohl seine führenden Politiker alles andere als liebenswürdig sind. Staatsgründer Habib Bourguiba war genauso ein Tyrann wie sein politischer Ziehsohn und Nachfolger Zine al-Abidine Ben Ali. Er ist 66 Jahre alt. Auf den offiziellen Porträts aber sieht er so aus, als sei er mindestens zwanzig Jahre jünger. Seine Fotos hängen nicht nur in jeder Amtsstube, sondern auch im Tante-Emma-Laden, beim Frisör, in der Autowerkstatt.
Man mag dies für das Ergebnis eines in bald fünfzig Jahren gewachsenen Untertanengeistes halten. Doch Ben Ali genießt durchaus Respekt. „Was soll ich über ihn sagen?“, fragt mein Begleiter Ali. „Er ist mein Präsident. Ich habe Arbeit, ich habe ein Haus, ich habe zu essen, ich habe Kleidung und ich habe die Freiheit, überallhin zu gehen. Alle Tunesier haben das. Und Demokratie? Das gibt es nirgendwo auf der Welt. Nicht in den USA, nicht in England und auch nicht in Frankreich.“
Tatsächlich haben die Despoten Bourguiba und Ben Ali ein für afrikanische Verhältnisse vorbildliches Sozialsystem geschaffen: Über achtzig Prozent der Bevölkerung sind davon erfasst. Sie haben eine kostenlose Gesundheitsversorgung. Siebzehn Prozent der Staatsausgaben fließen ins Bildungssystem. 92 Prozent der Kinder erhalten mindestens eine Basisschulbildung. Fast die Hälfte der 136.000 Studierenden sind Frauen. Und dies, obwohl in Tunesien der Islam Staatsreligion ist.
Alis älteste Tochter, das erste von insgesamt elf Kindern, nimmt selbst zu Hause das Kopftuch nicht ab und sieht Männern, die nicht zur Familie gehören, nie in die Augen. Aber sie studiert. (Ein ähnliches Sozialsystem hatte Saddam Hussein im Irak geschaffen. Seit den Golfkriegen und dem Embargo ist davon freilich so gut wie nichts übrig geblieben.)
Ali war, was die Verständigung betrifft, der wichtigste meiner Begleiter in der Wüste. Er ist Direktor einer kleinen Dorfschule im Süden Tunesiens und spricht fließend Französisch. Die anderen drei, ein Köhler, ein Schächter und ein Schmuggler, sprechen nur Arabisch. Meine Kenntnisse in dieser Sprache beschränken sich auf wenige Höflichkeitsfloskeln.
Ali ist 53 und wirkt auf den ersten Blick sehr traditionell: Nie verlässt er das Haus, ohne sich den Burnus, einen bodenlangen braunen Umhang mit Kapuze, über die Schultern zu werfen. Stets trägt er den Schesch, den aus einem langen, schmalen Tuch gebundenen Turban. Er schwärmt von der Ruhe und Einsamkeit in der Wüste und sieht sich als direkten Nachkommen von Beduinen. Doch er steht nur mit einem Bein in dieser Tradition.
Er ist der einzige meiner Begleiter, der nicht am Morgen und am Abend und dreimal im Laufe des Tags innehält, in Richtung Mekka blickt, niederkniet und betet. Er verehrt Bourguiba. Nicht weil er ein arabischer Despot war, sondern weil er lange in Frankreich gelebt und studiert hat: „Er war ein halber Europäer. Er hat Tunesien Kultur gebracht.“ Ali lebt mit dem geistigen Spagat gebildeter Araber: Sie verteidigen ihre Traditionen; aber Kultur, das ist Europa. Doch Ali scheint unter diesem Spagat nicht zu leiden. Er ist ein fröhlicher Mensch, offenherzig und immer freundlich.
Der Gegenpart zu Ali ist Monsieur Mouldi, ein 67-jähriger Köhler, der sein halbes Leben in der Sahara zugebracht hat. Weil er der Älteste ist, steht ihm als Einzigem das Privileg zu, mit „Monsieur“ angesprochen zu werden. Und nicht nur dieses: Er entscheidet, wann aufgebrochen wird und wann der Tagesmarsch zu Ende ist und das Lager aufgeschlagen wird. Er gibt die Richtung vor. Diskussionen sind nicht erlaubt und werden auch gar nicht gesucht. Monsieur Mouldi kennt die Wüste und kann die kleine Karawane tagelang durch eine sich ständig verändernde Dünenlandschaft führen und dann punktgenau den einzigen Brunnen der Gegend treffen, den man hundert Meter zuvor noch nicht einmal ahnen konnte, weil er hinter einer fünfzig Meter hohen Düne liegt.
Monsieur Mouldi ist klein, hat dünne Beine und einen Kugelbauch. Beim Marsch durch die Wüste läuft er meist barfuß. Egal, ob es durch hohe Dünen geht, so weich wie Puder, oder ob eine steinige Ebene zu überwinden ist. Seine Füße sind von der Sonne schwarz gebrannt, genauso wie die Hände. Er hat eine uralte zweiläufige Schrotflinte dabei. Ohne die geht er nie in die Wüste. Es könnte ja sein, dass eine Gazelle seinen Weg kreuzt. Doch selbst wenn ihm das Tier direkt vor der Nase stünde, sagen die anderen hinter vorgehaltener Hand, würde es Monsieur Mouldi nie treffen.
Wenn am Abend das Lager aufgeschlagen wird, setzt er sich in den Sand und zündet das Feuer aus trockenem Reisig an, das während des Marsches gesammelt wurde. Er kocht den ersten Tee und reicht jedem sein Glas. Sonst kümmert er sich um nichts. Noch ein Privileg des Alters. Am Feuer beherrscht er das Gespräch. Er erzählt gerne, viel und laut. Er spricht von seiner Pilgerreise nach Mekka, die natürlich ein Erlebnis war. Das Erlebnis im Leben eines Muslim. Er ist begeistert von den drei Millionen Menschen, die er dort gesehen hat, und gleichzeitig ist er erschrocken. „In dieser Masse ist man verloren. Niemand nimmt dort Rücksicht auf einen alten Mann.“
Monsieur Mouldi ist ein tiefgläubiger Muslim und kein Puritaner. Am Lagerfeuer erzählt er gerne Witze, meist ziemlich schmutzige. Da wimmelt es von Mösen und Schwänzen, und in aller Regel führen sie Krieg gegeneinander, der am Ende doch zu einer Vereinigung führt. Wenn er solche Geschichten erzählt, eine nach der anderen, will er nicht unterbrochen werden. Wagt es trotzdem einer, wird seine Stimme noch lauter, fast schreiend. Erst wenn er nichts mehr zu erzählen weiß oder müde ist, dürfen die anderen reden.
Ganz selten ergreift dann Mohammed das Wort. Er redet leise, aber eindringlich. Sein Alter ist schwer zu schätzen. Er hat tiefe Furchen im Gesicht; die Falten eines Mannes, der Jahre in der Sonne und in staubtrockener Luft verbracht hat. Mohammed war sein Leben lang in der Sahara, als Schmuggler im Grenzgebiet zwischen Libyen, Tunesien und Algerien. Bei der Vorbereitung des Marsches hatten wir zunächst gar nicht an ihn gedacht. Nicht etwa, weil er als Schmuggler etwas Illegales tut. Sein Beruf ist bei den anderen genauso geachtet wie Köhler, Schächter oder Lehrer. Aber keiner der drei anderen kannte ihn persönlich, und so wollten wir eigentlich nur seine beiden Kamele ausleihen. Doch Mohammed lässt seine Tiere nicht allein.
Er braucht die Stimme nicht zu erheben, damit die anderen schweigen. Sie sind gebannt. Ich auch, obwohl ich ihn nicht verstehe. Es reicht, ein paar wenige Grunddaten übersetzt zu bekommen: dass er in Algerien achtzig billige Autoreifen gefunden hat und sie mit seinen Kamelen auf einer neuntägigen Wanderung über die Grenze nach Tunesien gebracht hat, um sie hier gewinnbringend zu verkaufen. Die Details der Geschichte kann man, ohne ein Wort zu verstehen, an der Modulation seiner Stimme erkennen: wie er Katz und Maus gespielt hat mit den Grenzwächtern, wie sie ihn fast geschnappt haben und wie er ihnen am Ende doch noch entwischt ist. Alle atmen erleichtert auf.
Nur Brahim spricht so gut wie nie. Er ist der jüngste meiner vier Begleiter und auch der umtriebigste. Er sammelt das meiste Holz. Er bereitet morgens und abends das Brot zu – Mehl, Wasser und Salz werden zuerst zu einem Teig geknetet und dann unter der Glut des Feuers ausgebacken. Er stellt die Fallen rund ums Lager auf.
Als er an einem Morgen einen Wüstenfuchs mit von der Wucht des Geräts abgeschlagenen Vorderläufen darin gefangen findet, befreit er ihn, schneidet ihm die Kehle durch und lässt ihn ausbluten. Dann trennt er den Kopf vom Rumpf. Beides übergibt er Monsieur Mouldi. Er ist es, der dem Tier den Schwanz abschneidet und ihm das Fell abzieht. Er ist der Chef. Ihm gebührt die Jagdtrophäe.
Anders als die beiden anderen braucht Brahim keine kleinen Fluchten. Ganz selbstverständlich akzeptiert er die Hackordnung der Gruppe. Ali, der Lehrer, entwischt ihr immer dann, wenn er französisch spricht. Und Mohammed sucht sich während des Marsches oft seine eigenen Wege. Mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern, gerade so, als wolle er sich verstecken, schert er mit seinen beiden Kamelen aus dem Gänsemarsch der Karawane aus. Er ist der Einzige in der Gruppe, der nicht auf Monsieur Mouldi angewiesen ist, denn auch er kennt die Wüste. Die anderen aber würden sich ohne den herrischen Alten in der Endlosigkeit der Dünen verlieren.
Vielleicht sind es diese kleinen Fluchten, die es erlauben, die von der Tradition vorgegebene Rangordnung zu respektieren und Konflikte einfach zu ignorieren. Auch wenn sie an manchen Tagen spürbar über der Gruppe lasten. Nur wenn Monsieur Mouldi seinen alten Weltempfänger anknipst, um herauszufinden, ob der Krieg der USA gegen den Irak schon begonnen hat, herrscht Einigkeit ohne falschen Unterton: Natürlich seien die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington nur ein Vorwand für den Feldzug gegen die arabische Welt. Man wisse ja noch nicht einmal sicher, ob die Flugzeuge nicht im Auftrag des US-Geheimdienstes ins World Trade Center und ins Pentagon rasten.
Der Grund eines Angriffs auf den Irak sei jedenfalls kein Krieg gegen den Terror. Öl spiele sicher eine Rolle. Aber eigentlich gehe es um Israel, das sich vom Irak bedroht fühle. Dabei wisse jeder, dass Israel A-, B- und C-Waffen besitze und auch bereit sei, sie einzusetzen. Aber niemand spreche von UNO-Inspektoren und Entwaffnung. Im Gegenteil: Die ganze Welt schaue zu, wie Israel täglich die palästinensischen Brüder massakriere. Wenn jetzt wegen Israel der Irak angegriffen werde, dann würden die Araber zurückschlagen. Überall auf der Welt.
Es ist der Stachel Israel, der die Araber eint, mögen sie auch sonst zerstritten sein. Der in Paris lebende und aus einer Familie von islamischen Schriftgelehrten stammende tunesische Lyriker und Essayist Abdelwahab Meddeb schreibt in seinem Buch „Die Krankheit des Islam“ (Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2002, 280 Seiten, 28,80 Euro): „Das Unheil, welches das islamische Subjekt befällt, hat seinen Ursprung im Westen … und in Israel, das mit seinem Erfolg irritiert: der klare Gegenpol zum eigenen uneingestandenen Scheitern.“ Israel wurde als Staat zu einer Zeit geschaffen, in der das einstige arabische Weltreich seine machtlosesten Jahre erlebte. Einst hatten die Araber nicht nur den Vorderen Orient und Nordafrika, sondern auch Teile Europas beherrscht. Kultur und Wissenschaft waren nicht hinter den dunklen Klostermauern Europas, sondern in den lichtdurchfluteten arabischen Universitäten zu Hause. Nichts davon ist übrig geblieben. Selbst der Reichtum des Öls nützt den Arabern wenig. In der globalen Politik spielen sie allenfalls eine untergeordnete Rolle. Israel kann ihnen – mit Hilfe der USA – auf der Nase herumtanzen.
Schon die Staatsgründung 1948 und der nachfolgende erste israelisch-arabische Krieg mit fast einer Million palästinensischer Flüchtlinge war ein Trauma. Keine zwanzig Jahre später kam der Schock des Sechstagekriegs, in dem der kleine jüdische Staat die damals mächtigsten arabischen Armeen geschlagen hat. Dieser Schock ist nie überwunden worden. Die Fernsehbilder von israelischen Panzern und gedemütigten Palästinensern im Westjordanland und im Gaza-Streifen halten die Wunde bis heute offen. Täglich werden die Araber an ihre Erniedrigung erinnert.
Diesen Schmerz und die daraus entstandene Frustration sieht Abdelwahab Meddeb als Nährboden für militanten islamischen Fundamentalismus: Der Ägypter Anwar as-Sadat, der erste arabische Präsident, der mit Israel Frieden geschlossen hatte, wurde (folgerichtig) 1981 das erste Opfer eines fundamentalistischen Attentats. Damals dachte noch niemand an al-Qaida. Doch der denkende Kopf hinter den damaligen Verschwörern, der Arzt Aiman al-Sawahri, wurde später zum engsten Berater von Ussama Bin Laden. Auch Bin Ladens Motivation sieht Meddeb im Schmerz der Erniedrigung begründet: „Ich begreife die irrsinnigen Beweggründe Bin Ladens und seiner Adepten ausgehend von diesem Schmerz, der dem Ausgeschlossenen sein Dasein vergällt: Es ist der Wunsch nach Anerkennung …, der sie handeln lässt.“
Es ist deshalb nur logisch, dass ein Krieg der USA gegen den Irak die Wahrscheinlichkeit islamisch-fundamentalistischer Attentate erhöhen wird. Aber dass die Araber überall auf der Welt zurückschlagen werden, wie meine Begleiter glauben, ist doch zumindest zweifelhaft. Denn letztlich sind die Regierungen der arabischen Länder ein zerstrittener Haufen, seit Jahrzehnten unfähig zu gemeinsamem Handeln. Keine von ihnen wird sich auf die Seite des Irak stellen. Alle werden versuchen, das für sie Beste daraus zu machen.
Abgesehen von radikalen Fundamentalisten werden die arabischen Despoten noch immer von niemandem ernsthaft in Frage gestellt. Man liebt sie nicht, aber man respektiert sie. Wie die Sonne über der Sahara. Wer dort auch nur ein paar Tage verbracht hat, weiß, dass es viel angenehmer ist, die Sonne im Rücken zu haben. In den Morgenstunden, wenn es noch bitterkalt ist, wärmt sie den Rücken. Die Dünenlandschaft erscheint dann weich, in einem warmen rötlichen Gelb. Wer sich aber gegen die Sonne stellt, dem schmerzen die Augen. Und die endlosen Sandberge nehmen ein eisiges Grau an.
TONI KEPPELER, 47, war lange Jahre Mittelamerikakorrespondent der taz. Seit März 2002 lebt er in Zürich und arbeitet in der Auslandsredaktion des Nachrichtenmagazins Facts