Zukunftsort Crottendorf?: Hunger statt Sattheit

Im Erzgebirge diskutierten Interessierte und Betroffene über die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft ihrer Region.

Bild: Ann-Kathrin Liedtke

von ANN-KATHRIN LIEDTKE

Der Saal ist voll. Und das Publikum sieht durchaus vielseitig aus: Neben einer Frau mit Kopftuch sitzt ein blondes Mädchen und übersetzt simultan das Gesagte, ihnen gegenüber sitzen junge Männer aus Syrien neben Ur-Erzgebirgler*innen, ein Mann aus Pakistan bedient den Ton am Mischpult. Ein Bild, das viele aus Berlin in dem 4.100-EinwohnerInnen-Ort Crottendorf im Erzgebirge vermutlich nicht erwartet hätten.

Rund 120 Menschen sind gekommen, um mit taz.meinland zu diskutieren. Jan Feddersen, Projektleiter von taz.meinland, und Franz Botens, Mehr Demokratie Sachsen e.V., moderieren den Abend, an dem über die Zukunft der Region, über den Zu- und Wegzug geflüchteter Menschen, die neuen Deutschen, diskutiert wird – darüber, wie Demokratie in Crottendorf funktioniert, und wie offen die Gesellschaft hier sein kann. Zukunftsort Crottendorf? Sattheit, keine Sorgen, keine Nazis?

Klischee bestätigt?

Gleich eine der ersten Wortmeldungen des Abends scheint das zu widerlegen: Sie kommt von einem Fraktionsvorsitzenden der AfD, der jedoch – so betonen einige Crottendorfer – nicht aus der Gegend, eine Ausnahme sei. „Ich gehöre zu diesen finsteren Gestalten, wenn man die Einladung zur Veranstaltung so lesen will. 2013 bin ich zur AfD gegangen, weil die etablierten Parteien zu einem Einheitsbrei geworden sind“, sagt er. „Bei der AfD habe ich eine politische Heimat gefunden.“

Eine Aussage, die jedoch nicht zu zahlreichen unterstützenden Wortmeldungen führt. Vielmehr dreht sich der Abend darum, was die Menschen mit ihrem Ort verbinden, warum sie bleiben wollen und wie sie mit den Neuankömmlingen umgehen, die die Zukunft einer Region sein könnten, die mit einem langsamen Dorfsterben zu kämpfen hat.

Integration durch Sprache und Räuchermännchen

    Vor Weihnachten musste eine Familie, die aus dem Kosovo nach Deutschland floh, Crottendorf wieder verlassen. „Sie waren bereits ein Teil von uns“, sagt eine Veranstaltungsteilnehmerin. „Das Kind ging zur Schule, der Mann war bei uns im Tischtennis-Verein. Ich verstehe einfach nicht, warum sie gehen mussten.“

    Crottendorfer seien tief im Glauben verhaftet, meint Günther Wolf vom Erzgebirgsverein. Rund 80 Prozent würden sich in verschiedenen Glaubensgemeinden engagieren. Ein Problem mit Neuzugängen, auch anderer Religionen, gäbe es deswegen nicht, meint er. Vor allem durch die Nähe zu Tschechien sei man hier gewohnt, mit anderen Kulturen zusammen zu leben.

    Beate Weißer-Linder (Familienzentrum Crottendorf) und Jan Feddersen (Projektleiter taz.meinland) Was den Geflüchteten hier aber zuerst beigebracht wurde, war das Grüßen. „Man muss sich schon die Hand geben“, meint Beate Weißer-Linder vom Familienzentrum Crottendorf lachend. „Das gehört sich so.“ Katrin Viertel, die ein Familienunternehmen in der Gegend leitet, meint: „Wir sind hier auf einer Insel der Glückseeligkeit. Grundvoraussetzung dafür ist aber immer auch das Miteinander. Man muss aufeinander zugehen.“

    Wer dazu gehören möchte sollte also zumindest Weihnachtsdekoration in die Fenster stellen und vielleicht ein bisschen Erzgebirgisch sprechen. „Die Sprache ist ein Identifikationsmoment“, erklärt Michael Kern vom Mundarttheater. Wir Crottendorfer sind eigen, das kann man schon sagen. Aber die Neuen können ja mal probieren, Erzgebirgisch zu sprechen.“

    Sattheit heißt nicht Zufriedenheit

    Am Anfang hätte es, trotz allem Positivismus, auch hier Skepsis gegeben. Angst vor neuen Kulturen, ob alles funktioniert und ob die Menschen sich integrieren würden. „Irgendwann kamen dann die Busse“, erzählt ein Veranstaltungsteilnehmer. „Ganze Busse, voll mit Menschen. Als die ausgestiegen sind mit ihren Tüten in der Hand und so viele Crottendorfer gekommen sind, um sie zu empfangen – das war ein sehr bewegender Moment für mich. Ich glaube dieser Moment hat besiegelt, dass das hier in diesem Ort klappen wird mit der Integration.“

    Dass dennoch Unruhe herrscht in diesem „Ort der Glückseeligkeit“, wird deutlich, als ein Veranstaltungsteilnehmer sich gegen die „Regulierungswut der EU“ ausspricht. Er fühle sich fremdbestimmt, Regeln „von oben“ würden sein und das Leben vieler in der Region erschweren. Seine Kritik stößt auf viel Zuspruch. Stimmen werden laut, es gibt viel Beifall. Ein kurzer Moment der deutlich macht, dass Sattheit nicht immer auch vollständige Zufriedenheit meint.

    Hunger nach mehr

    Am Ende geht es deshalb vor allem auch um den Titel der Veranstaltung: „Noch lange nicht satt!“ Der Konsens der VeranstaltungsteilnehmerInnen ist eindeutig: Die Crottendorfer, die Erzgebirgler, waren lange Zeit satt. Jetzt wollen sie hungrig sein. Die Region soll sich weiterentwickeln, die BewohnerInnen sich engagieren und aktiv werden.

    Eine Veranstaltungsteilnehmerin meint: „Ich glaube in Deutschland war man schon satt, bevor die sogenannte Flüchtlingswelle anfing. Und jetzt, aus unserer Sattheit heraus, bewegt sich wieder etwas. Wir müssen uns wieder mehr miteinander beschäftigten. Hinter den Zäunen herkommen, die wir um uns herum aufgebaut haben.“

    Aus Sattheit wurde Trägheit. Jetzt wollen die Crottendorfer, so der Eindruck, wieder anpacken. Auf die Frage nach der Zukunft der Region folgten jedoch viele traditionsverhaftete Antworten: sich in Vereinen zu engagieren, die Infrastruktur zu stärken. Doch auf die Frage scheint diese eine Antwort eindeutig: die Zukunft von Crottendorf liegt auch bei den Zugezogenen. Den Geflüchteten, den neuen Erzgebirglern.