: Zeitenwende für Gewerkschaften
Die erfolgreichsten Wachstumskritiker unserer Zeit heißen Friedrich Merz und Christian Lindner – sagt der Soziologe Klaus Dörre. Ein Gespräch über die sabotierte Antriebswende, Arbeitnehmerrechte Beschuss und Spanferkel, für die keine Zeit mehr bleibt.
Von Minh Schredle (Interview)
Herr Dörre, im wirtschaftsliberalen Lager häufen sich die Stimmen, dass Deutschland radikale Reformen brauche, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Mit Blick auf die Interessen von Arbeitnehmern ist das wohl als Drohung zu verstehen?
Ja, ganz klar. Gegenwärtig erleben wir so etwas wie eine Zeitenwende in den organisierten Arbeitsbeziehungen. Nach der Krise 2007 bis 2009, in den zehn Jahren der Prosperität danach, sah es so aus, als würde sich der deutsche Sozialkapitalismus, für den sozialer Friede eine Produktivkraft ist, noch einmal berappeln. Aus heutiger Sicht muss ich sagen: Diese Einschätzung hat sich nicht bewahrheitet. Stattdessen praktizieren Unternehmen eine Art Niederwerfungsstrategie gegenüber den Gewerkschaften, wie wir sie bis dato nur aus den angelsächsischen Staaten kannten. Nicht im Sinne von vollständiger Entgewerkschaftung, sondern so, dass Gewerkschaften in einem Ausmaß geschwächt werden, dass sie außer als willfährige Krisenmanager zu nichts anderem mehr zu gebrauchen sind.
Deutschland war doch stolz auf das Modell der Sozialpartnerschaft, das nach konsensualen Lösungen sucht, wo Interessenkonflikte zwischen Beschäftigten und Brötchengebern vorliegen.
Wie das Gegenteil davon aussieht, zeigt sich brennglasartig beim VW-Konflikt. Im Konzern gab es einen Haustarifvertrag mit einer langfristigen Beschäftigungsgarantie bis 2029. Und niemand konnte sich vorstellen, dass daran gerüttelt wird. Es galt als undenkbar. Wir haben dazu im VW-Werk in Kassel geforscht, wo es 15.500 Beschäftigte gibt. Alle, wirklich alle, die wir befragt haben, vom Topmanagement bis zu den Arbeitern am Band: Alle sind davon ausgegangen, dass selbst in einer Situation, wo die Umstellung auf Elektro-Antriebe die Hälfte der Arbeitsplätze in diesem Werk kosten könnte, dass selbst in einer solchen Situation die Garantie etwas gilt. Und die Tatsache, dass das VW-Management das in einem Coup über Nacht in Frage gestellt hat, mit betriebsbedingten Kündigungen gedroht hat, mit Werksschließungen, mit pauschalen Lohnkürzungen von mehr als zehn Prozent: Das ist ein Symbol für die Zeitenwende in den Arbeitsbeziehungen. Und VW ist nur die Spitze eines Eisbergs. ThyssenKrupp, ZF, Continental, BASF – Konzerne, die eigentlich Vorzeigeunternehmen waren für den deutschen Sozialkapitalismus: Sie alle schwenken auf diesen Kurs ein. Deshalb werden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den nächsten Jahren nichts zu lachen haben.
Die Unternehmen sind ja nicht allein im Land, es gibt auch die Politik. Ist es mit Blick auf die schwache Konjunktur vielleicht einfach so, dass es mehr Opferbereitschaft für den Standort Deutschland braucht?
Der entscheidende Punkt ist doch, was der Wirtschaft wirklich nutzt. Und ich würde behaupten, dass vieles, was in Deutschland passiert, gegen gesamtwirtschaftliche Interessen verstößt. Beispielsweise die Abkehr von der Antriebswende: In Norwegen waren 2024 fast 90 Prozent der neu zugelassenen Pkw E-Autos – begünstigt durch Anreize, die der Staat gesetzt hat. In Deutschland passiert das Gegenteil: Unionsparteien, AfD und FDP wollen, dass Klimaziele gelockert werden, sie schaffen Verunsicherung durch angebliche Technologieoffenheit. Wer soll noch in Ladeinfrastruktur investieren, wenn plötzlich wieder das Aus vom Verbrenner-Aus verkündet wird? Wenn auf einmal wieder an der vollständigen Dekarbonisierung gerüttelt wird, geht Verlässlichkeit flöten und das verscheucht potenzielle Geldgeber.
Und das spiegelt sich wider in den Betrieben?
Das Zwickauer VW-Werk hängt zum Beispiel auf Gedeih und Verderb vom Erfolg des Elektro-
Antriebs ab, die haben keine andere Chance.
Die Arbeiter waren anfangs nicht erfreut über diese Antriebswende, hätten lieber weiterLamborghini-SUV gebaut. Aber sie haben sich darauf eingelassen, weil das Management, die Gewerkschaften, der Betriebsrat alle gesagt haben: Das ist die Zukunft. In Deutschland ging die Nachfrage nach elektrischen Pkw zwischenzeitlich durch die Decke, die Produktionskapazitäten haben nicht ausgereicht, um die Nachfrage zu bedienen. Aber plötzlich kam die Verfassungsklage von Friedrich Merz, die Umweltprämie wird gestrichen und die Nachfrage bricht ein [nach der erfolgreichen Verfassungsklage der CDU gegen den Bundeshaushalt im Jahr 2023 wurde die Förderung für E-Mobilität eingespart, d. Red]. Der Grund: Staat und Politik sorgen nicht für stabile Rahmenbedingungen. Sie schaffen keine Zukunftsmärkte, sondern verhindern sie. Sogar unabhängig von ökologischen Standards ist es völlig destruktiv, was da gegenwärtig betrieben wird.
Also ist es ein Gerücht, dass CDU und FDP für Wirtschaftskompetenz stehen?
Ich würde behaupten, Merz und Lindner sind momentan die erfolgreichsten Wachstumskritiker, weil sie mit allem, was sie vorschlagen, den sozial-ökologischen Umbau verzögern. Sie bedienen die Interessen wildgewordener Partikulargruppen, und zwar auf Kosten des großen Ganzen. In trauter Eintracht mit der radikalen Rechten halten die Mitte-rechts-Parteien mit einer regelrechten Talibanmentalität an einer Schuldenbremse fest, über die sogar Ökonomen des Internationalen Währungsfonds – wahrlich kein Hort für Antikapitalisten – den Kopf schütteln. Es ist ganz offensichtlich, dass es in Deutschland ein riesiges Defizit an privaten und öffentlichen Investitionen gibt. Einmal physisch, bei Wasser-, Strom-, Gasleitungen, Bahntrassen und Brücken et cetera. Aber auch im Sozialbereich, bei den Schulen, Kliniken und Kitas: Da gibt es einen jährlichen Investitionsbedarf im zweistelligen Milliardenbereich. Und in dieser Situation erklären die Wirtschaftsliberalen öffentliches Schuldenmachen zum Teufelszeug. Gleichzeitig wollen sie aber Steuergeschenke an die Wohlhabenden verteilen, die ein gewaltiges Loch in den Staatshaushalt reißen. Und die einzige Idee zur Gegenfinanzierung ist, dass es sich von selbst rechnen soll, weil die gesenkte Steuerlast das Wachstum begünstige. Das ist Dogmatismus pur – und wenn man mal kurz drüber nachdenkt, muss doch auffallen: Das kann nicht funktionieren, das ist völlig unmöglich.
Trotzdem steht linksgrüne Wirtschaftspolitik zur Zeit nicht hoch im Kurs und die marktradikale AfD ist unter Arbeitern beliebt.
Insbesondere im Osten gibt es eine ausgeprägte Marktaffinität bis tief in die Arbeiterschaft hinein. Wenn ein AfD-Repräsentant etwa in Zwickau hergeht und sagt: VW ist am Ende wegen der Planwirtschaft im Unternehmen, dann knüpft er damit unmittelbar an die DDR-Erfahrung an. Man hat gelernt, dass die Planwirtschaft, jedenfalls die Zentralverwaltungswirtschaft der DDR, nicht funktioniert. Das wird jetzt aufgegriffen und das schlichte Argument ist: Die Autos müssen sich am Markt bewähren, und wenn sie das nicht tun, dann ist es eben eine Fehlplanung des Unternehmens. Weil die Annahme verbreitet ist, dass sich Angebot und Nachfrage über den Preis selbst regulieren, dass nur der Profit zählt und alles andere unwichtig ist. Die Ingenieure haben das im Studium gelernt, das wird an die Arbeiter weitergegeben. Und so entsteht das Empfinden, dass in Berlin eine Laientruppe agiert, die fachlich keine Ahnung hat.
Wenn ein kaputtgesparter Sozialstaat und aufgegebene Klimaziele als Brandbeschleuniger wirken und in der Krisenkonkurrenz die Mittel knapper werden, dürfte das der radikalen Rechten noch mehr Auftrieb verschaffen?
Das kann passieren, aber es ist kein zwangsläufiger Mechanismus. Was droht, ist, dass sich das Gefühl durchsetzt, dass es nicht für alle reicht und dass das Portemonnaie der Elon Musks dieser Welt unantastbar ist. Und das ist eine Gefahr, weil dann soziale Unterschiede in der Nachbarschaft zu Unterschieden aufgebaut werden, bei denen es um alles oder nichts geht. Dann wird die Tatsache, dass der Nachbar das größere Auto fährt, wichtiger als der riesige Abstand zwischen dem Facharbeiter und einem CEO, der das 234-Fache verdient. Und wenn es scheint, als ob hier Veränderungen außerhalb der Reichweite liegen, gedeiht die Botschaft, dass man das eigene Stück am Kuchen nur verteidigen kann, wenn man die Schleusen für den Zuzug zur – gleichwohl ungleichen – Wohlstandsinsel Deutschland möglichst eng macht. Und das bedeutet faktisch, dass der klassenspezifische Verteilungskonflikt Oben gegen Unten umgedeutet wird: In ein „die von außen“, die angeblich in Sozialsysteme einwandern, ohne etwas dafür getan zu haben, gegen diejenigen, die wirklich was geleistet haben und sozusagen von den Neuankömmlingen ausgebeutet werden. Das ist das Deutungsmuster, das in Teilen der Arbeiterschaft inzwischen etabliert ist.
Laut Umfragen empfindet ein sehr großer Teil der Menschen im Land die ungleiche Verteilung von Vermögen und Einkommen als ungerecht. Trotzdem scheint das Thema nicht den Wahlkampf zu dominieren.
Ich glaube, das größte Problem ist, dass man in der Arbeiterschaft den Mitte-links-Parteien kaum noch zutraut, an der ungerechten Verteilung etwas zu ändern. Um mal ein Beispiel zu nennen: Ich habe selbst geredet auf der Betriebsversammlung bei Opel-Eisenach vor Hunderten von Beschäftigten. Und es gab einen Punkt, für den ich überhaupt keinen Beifall bekommen habe. Nämlich als ich Bezug genommen habe auf Thomas Piketty und „tax the rich“: Nutzen wir das Geld der Reichen zur Finanzierung des sozial-ökologischen Umbaus. Keine Hand hat sich gerührt, nicht einmal die von Gewerkschaftern. Das war der einzige Punkt, wo ich gar keinen Applaus bekommen habe. Und das zeigt, wie dick die Bretter sind, die da durchbohrt werden müssen.
In Ihrer Forschung kommen Sie zu der Einschätzung, dass beim zwischenmenschlichen Kontakt in Betrieben Emotionen eine bessere Chance haben durchzudringen als abstrakte Zahlen und Fakten. Ist das eine Strategie, die auch Parteien anwenden könnten?
Und ein Gespräch funktioniert nicht mit Leuten, die ein geschlossen rechtsextremes Weltbild vertreten, da ist Hopfen und Malz verloren. Aber trotzdem ist es nicht erfolgversprechend, 49 Prozent der Arbeiter in Thüringen als Rassisten anzureden, weil sie AfD gewählt haben. Es ist wichtig, den Leuten auf Augenhöhe zu begegnen, sie als entscheidungsfähige Subjekte ernst zu nehmen. Ein großes Problem ist, dass sich viele Beschäftigte seitens der Politik als ungesehen fühlen. Sie sind überzeugt, dass ihre Meinungen wenig Einfluss auf das politische Geschehen haben – aber dass sie dem Establishment wehtun können, wenn sie AfD oder wie in den USA Trump wählen. Die soziale Frage wurde in den Medien lange nur noch mit Armut oder prekärer Beschäftigung assoziiert. Dass ein gut verdienender VW-Arbeiter Probleme haben könnte, kommt denen gar nicht in den Sinn.
Jetzt gucken wir uns aber mal an: Worauf hat die Beschäftigungsgarantie bei VW beruht? Die wurde im Kassler Werk erkauft mit dem Plan, die Produktivität um 30 Prozent zu steigern – und das ist erreicht worden unter anderem durch hochflexible Arbeitszeitsysteme, die bewirken, dass man im Grunde sein Privatleben nicht mehr planen kann. Die Arbeiter sagen, die hohen Löhne sind Schmerzensgeld für entgangene Lebenszeit. Bei VW war es vor vielen Jahren tatsächlich mal so, dass man freitagnachmittags hin und wieder ein Spanferkel grillen konnte, weil die Arbeit getan war. Die Zeit ist lange vorbei, es gibt solche Pausen nicht mehr, und das geht auch zulasten der Kollegialität. Dabei sind die Arbeitsbedingungen bei VW noch vergleichsweise gut. Aber weil das alles nicht mehr zur Sprache kommt, weil man das Empfinden hat, dass Gewerkschaften und die politische Linke nicht wirklich was ändern können an den Verhältnissen, entsteht Offenheit für die Einflüsterungen der radikalen Rechten.
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