Zeitbombe Pflegeversicherung : Feigheit vor den Kranken
Der alternden Gesellschaft droht angesichts immer mehr pflegebedürftiger Menschen ein Pflegedesaster. Die Regierung versagt. Ein Vorschlag.
Von UDO KNAPP
Die Pflegeversicherung ist eine Teilleistungsversicherung. Die Kosten der Pflege im Alter werden in einem komplexen System aus Zuschüssen der Pflegeversicherung und Eigenanteilen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen finanziert.
Die Kostensteigerungen in der stationären wie in der ambulanten Pflege, die höheren Personalkosten, höhere Qualitätsstandards und die gestiegenen Investitionskosten in Ausbau und Ausstattung der stationären und der ambulanten Pflegeeinrichtungen können über die Beiträge zur Pflegeversicherung und die Eigenbeiträge der zu Pflegenden nicht mehr abgesichert werden. In immer größerem Umfang müssen die Sozialämter die Kosten der Pflege übernehmen, die durch die Renten der Alten nicht mehr abgedeckt werden können. Dazu kommt durch die Überzahl an Alten, die die Generation der Babyboomer durch ihre zu niedrigen Kinderzahlen produzierte, eine bis etwa 2040 stark zunehmende Nachfrage nach Pflegeleistungen.
Seit Jahren wird über grundsätzliche Reformen diskutiert. Letztlich wird nur am Teilleistungssystem der Pflegeversicherung herumgedokert, und das leider problemverschärfend. So wurde ein privater Pflegemarkt geöffnet, auf dem mit Lohndumping und Billigpflege die freigemeinnützigen und öffentlichen Träger der Pflege unter Existenzdruck gesetzt wurden. Die Kassen nutzen in den Vergütungsverhandlungen für die Pflegsachleistungen den gespaltenen Pflegemarkt dazu, mit Kostenargumenten nicht nur jede Qualitätsverbesserung abzublocken, sondern die Sachleistungen der Pflege herunterzufahren.
Viele Träger zahlen keine fairen Löhne
Die personelle Ausstattung in der stationären als auch in der ambulanten Pflege ist für die Pflegebedürftigen und für die Pflegekräfte unzureichend. Tariflöhne oder ähnliche, etwa frei vereinbarte Kirchentarife, werden nur von den freigemeinnützigen Trägern gezahlt. Diese Tarife können sie nur zahlen, weil sie die Kassen für eine halbwegs auskömmliche Absicherung der Pflegearbeit in Verfahren vor Schiedsstellen zwingen. Mit öffentlichen Zuschüssen in den Ausbau der privaten stationären Pflege ist der gesetzlich festgeschriebene Vorrang der ambulanten Pflege ausgebremst worden. Die von den Pflegebedürftigen zu leistenden Eigenanteile steigen. Die Beiträge zur Pflegeversicherung wurden erhöht, was an der Unterdeckung der Kosten der Pflege nichts geändert hat. Das gilt auch für den 2005 eingeführten erhöhten Beitrag der Kinderlosen zur Pflegeversicherung, der die Vorteile, die sie im Pflegefall in Anspruch nehmen können, in keiner Weise angemessen ausgleicht.
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat im Herbst 2020 einen Reformvorschlag vorgelegt. Sein Modell: Verpflichtende Löhne in der Pflegearbeit in Höhe der ortsüblich gezahlten Löhne und einen Deckel für den Eigenanteil an den Pflegekosten. Finanziert werden sollten die so neu entstehenden Kosten durch eine minimale Erhöhung der Beiträge zur Pflegeversicherung für alle, insbesondere auch für die Kinderlosen, einen Zuschuss aus den öffentlichen Haushalten und die Reduzierung der Zuschüsse für die Kurzzeit- und die Verhinderungspflege.
Der Entwurf wurde scharf kritisiert. Vor allem, weil darin die stationäre zu Lasten der ambulanten Pflege gestärkt wird, obwohl die ambulante Pflege insgesamt kostengünstiger ist, die große Mehrheit der Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt werden will und die stationäre Pflege nur eine letzte, meist überschaubar kurze und teure Lebensendzeitpflege ist. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat nun, in der Koalition unabgestimmt, einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt. Alle Pflegeanbieter sollen von der Finanzierung aus der Pflegeversicherung ausgeschlossen werden, wenn sie keine gesetzlichen, mit den Tarifpartnern ausgehandelten Tariflöhne zahlen. Einen Vorschlag zur Gegenfinanzierung der Kosten enthält der Vorschlag nicht und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) hat bis heute zu Spahns Vorschlägen keine Position bezogen.
Ein neues Pflegekonzept auf den Weg bringen
Ist das Inkompetenz und Ignoranz gegenüber immer mehr pflegebedürftigen Alten, ist es Wahlkampftheater der Regierungskoalition?
Nein, es ist die Feigheit der politisch Verantwortlichen, der Gesellschaft die Tatsachen über die unabwendbaren Kosten der hohen Alterung in den nächsten 30 Jahren zuzumuten. Es ist ihr Unwille, ein anderes Pflegekonzept auf den Weg zu bringen.
Vorschläge gibt es schon lange: Die Pflegeteilleistungs-Versicherung könnte in eine Pflegevollversicherung mit generell begrenzter, vermögensabhängiger Eigenbeteiligung umgebaut werden. Die neue Pflegevollversicherung könnte in die gesetzliche Krankenversicherung integriert werden. Damit würde die zielgenaue Allokation der für die Pflege zur Verfügung stehenden knappen Mittel stationär oder ambulant in einem dann integrierten Gesundheitssystem möglich.
Für die Pflege gelten würde, wie für alle Gesundheitsdienstleistungen heute schon, dass jeder Bürger in vollem Umfang die Pflege erhält, die er für ein würdevolles Leben in seinen letzten Jahren braucht. Die Kosten für diese Pflege würden in deutlich höheren Beiträgen zur neuen integrierten Kranken- und Pflegeversicherung von allen Versicherten aufgebracht. Die Beiträge zur Pflegeversicherung von heute 3,5 Prozent des Brutto jedes Versicherten für die Pflege müssten dann drastisch steigen, angepasst an die jeweiligen demographischen Tatsachen der Alterung. Um diesen Anstieg abzumildern müssten zusätzlich alle anderen Einkommensarten, wie etwa Kapital- und Mieterträge, zur Beitragsbemessung herangezogen werden. Die Beitragsbemessungsgrenze müsste auf das heute schon höhere Niveau der Rentenversicherung angehoben werden. Auch demographieabhängige zeitweilige Sonderabgaben wären denkbar.
Gesundheit und Pflege für alle
Wer einen Sozialstaat will, der die Absicherung von Gesundheit und Pflege für alle in verbindlich vereinbarten Qualitäten sicherstellt, der muss die realen Kosten auch aus den Einkommen aller Bürger finanzieren.
Das Versprechen aller Parteien, die Sozialabgaben dauerhaft bei etwa 20 Prozent der Bruttoeinkommen und die Sozialquote des Staates bei 40 Prozent zu deckeln, ist unter den gegebenen demographischen Tatsachen nicht umsetzbar. Wer diese Vorgabe dennoch einhalten will, der muss Pflegesachleistungen kürzen und die Mehrheit der Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen sich selbst überlassen. Der gibt das Versprechen eines organisierten Zusammenhaltens der ganzen Gesellschaft im Sozialstaat auf.
Eine Pflegevollversicherung ist keine bevormundende staatliche Zwangsversicherung. Das zeigen die Pflegesysteme in Schweden und Dänemark, die auf dieser Grundlage organisiert sind. Sie funktionieren gut und arbeiten sogar durchweg kostengünstiger als unser Teilversicherungs-Pflegesystem.
UDO KNAPP ist Politologe und Kolumnist für taz FUTURZWEI.