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■ Zehn Jahre nach Tschernobyl ist die Anti-Atomkraft- Bewegung lebendiger als ihre Kritiker glaubenJammern macht blind für den Erfolg

Der Konsensverlust in Staat und Gesellschaft habe seit 1988 Kernenergieinvestitionen in Höhe von rund 15 Milliarden Mark zum Scheitern gebracht, klagte 1995 der Vorstandsvorsitzende der Rheinisch Westfälischen Elektrizitätswerke, Roland Farnung. Fast noch einmal soviel, nämlich rund 11,3 Milliarden Mark würden in Kernkraftanlagen stecken, die wegen gerichtlicher Streitigkeiten und des ausstiegsorientierten Gesetzesvollzugs gefährdet seien, jammert die Zeitschrift Atomwirtschaft, die mittlerweile im 41. Jahrgang existiert.

Das Gegenstück zur Atomwirtschaft, die Zeitschrift Atom, exisitert seit 1994 nicht mehr, sie wurde im 18. Jahrgang eingestellt. „17 Jahre in Bewegung – Rückblick (!) und Diskussion“ titelt sie in der letzten Nummer. Die sich trotz mancher Erfolge ausbreitende Perspektivlosigkeit wirkte sich „nicht gerade motivierend auf uns aus“, schreibt die Redaktionsgruppe. Mit „manchen Erfolgen“ sind wohl Kalkar, Hamm und Wackersdorf gemeint. Im März 1989 verkündet Bundesforschungsminister Riesenhuber das Aus für den Schnellen Brüter. Kostenpunkt (Forschungsgelder exklusive): 7,5 Milliarden Mark. Im Mai sickert die Nachricht durch, die Betreiber des Thorium-Hochtemperaturreaktors, die Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen (VEW), wollten einen Antrag auf Stillegung stellen. 4,5 Milliaden Mark hatte der Pannenreaktor gekostet. Und am 7. Juni 1989 ist es endgültig: Die WAA Wackersdorf wird nicht gebaut. Zu diesem Zeitpunkt waren 2,6 Milliarden Mark Bau- und Planungskosten angefallen. Nur in Hanau gibt es 1989 noch Ausbaupläne für eine Fabrik für Mischoxid-Brennelemente. Sie wird zu 95 Prozent fertiggestellt – und 1995 aufgegeben. 1,1 Milliarden Mark waren bereits investiert. Vier Reaktorblöcke in Greifswald gehen 1990 vom Netz, Block 5 folgt 1991, die Blöcke 6–8 werden nicht vollendet. Zwei Reaktoren in Stendal bleiben Bauruinen, das AKW Rheinsberg wird stillgelegt.

Erfolge? Aber nicht doch! Was malt die Atom in dieser Zeit in düsteren Farben aus? Energie-Kolonie DDR? (Nr. 29, 1990), Atommafia goes East (Nr. 32, 1990) oder Renaissance der Atomindustrie (Nr. 38, 1992).

Atomiker und ihre Gegner jammern gleichermaßen herum. Das legt den Schluß nahe, daß beide Seiten sich um den „wirklichen Erfolg“ gebracht sehen. Auf der einen Seite wird der Atomgemeinde der Ausbau des Atomprogramms vermasselt. Auf der anderen Seite erweist sich der Sofortismus der Anti-AKW-Bewegung als resignative Falle. Als Barometer für „Erfolg“ galten Großaktionen wie in Wyhl, wo der Bau eines Atommeilers durch Massenproteste verhindert wurde. Das Unbehagen, daß dieses einmal erfolgreiche Konzept nicht übertragbar war auf andere Schauplätze, war bei den Köpfen der Bewegung längst vorhanden. Kurz vor dem SuperGAU von Tschernobyl im März 1986 forderte die Redaktionsgruppe der Atom eine Bundeskonferenz mit dem Argument: Heute ist ein guter Teil der 100.000 Brokdorf-Demonstranten von 1981 vom Parlamentarismus längst aufgefressen. Wenn es heute überhaupt eine Chance gibt, dem rot-grün-modernen Zeitgeist etwas entgegenzusetzen, dann aus der neu keimenden Anti-AKW-Bewegung heraus mit den Wackersdorf-Erfahrungen im Rücken (Atom, Nr. 8).

Ostern 1986, wenige Woche nach dem Super-GAU in der Ukraine, demonstrierten dort 80.000 Menschen, Pfingsten setzen sich 30.000 über ein Demo-Verbot hinweg. Jetzt heißt es: Tschernobyl war das beste, was der Anti-AKW- Bewegung passieren konnte. Zynischer kann die Wahrheit nicht sein. Aber die Bemerkung trifft ins Schwarze (Atom, Nr. 10).

In der Tat. Sie offenbart eine der größten Schwächen der Anti- AKW-Bewegung, die sich sperrt, ihre Möglichkeiten und Grenzen zu analysieren. „Bewegung“, müßte man doch wissen, lebt von Latenz und Vitalität, von subjektiver und regionaler Betroffenheit, von Spontaneität und persönlicher Bereitschaft, sich einzumischen. Selbstverständlich muß es Ups and Downs in der Mobilisierungsfähigkeit geben. Längst steht die Bewegung in Konkurrenz zu anderen Themen (Verkehr, Gentechnologie ...), muß sich der lockere Zusammenhalt der Initiativen gegen straff organisierte Umweltverbände in der medialen Wahrnehmung behaupten.

Doch die Atom – und nicht nur die Redaktionsgruppe – huldigt dem Mythos der Militanz, und verengt damit die gesellschaftliche Basis von Protest und Widerstand. Die wenigen Väter und die vielen Mütter gegen Atomkraft, die nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl mit dem radioaktiven Regen wie Pilze aus dem Boden schießen, werden als „Becquerellis“ bespöttelt.

In Wahrheit spiegelt die Zeitschrift nur einen Auschnitt der Anti-Atom-Bewegung. Wer sich in einer Standortinitiative engagiert, weiß, daß das gesellschaftliche Spektrum der Bewegten und Unentwegten auch wertekonservative und bürgerliche Kreise einschließt. Parteienunabhängig ist gut, Parteienfeindlichkeit angesichts vieler Enttäuschungen verständlich, aber hinderlich. Sie hindert, selbstbewußt Bündnisse zu schließen, für begrenzte und begrenzbare Anlässe. Sie hindert, offen einzugestehen, daß auch der vielgeschmähte ausstiegsorientierte Gesetzesvollzug erheblich dazu beiträgt, die Kosten für den Betrieb von Atomanlagen in die Höhe zu treiben.

Das Bewegungstrauma trägt einen Namen: eben nicht Tschernobyl, sondern Brokdorf. Der Bauplatz an der Unterelbe war wiederholt Schauplatz für militante Aktionen und massenhaften Protest. Im Juni 1986, nach Tschernobyl, machten sich erneut Zehntausende auf den Weg in die Wilstermarsch, über 10.000 werden schon auf der Autobahn von der Polizei brutal gestoppt, am Tag danach werden in Hamburg 838 Menschen bis zu 14 Stunden eingekesselt. Am 14. Oktober 1986 liefert das AKW Brokdorf zum erstenmal Strom. Die Niederlage ist da.

Hilflose Angklage: Nach fünf Monaten Heuchelei erdreisten die Herrschenden sich, das AKW Brokdorf anzuschalten! Jetzt zeigt sich, was wir von ihnen zu halten haben! Perspektivreiche Drohung im Konjunktiv: Ein breiter Widerstand würde sie an der Verwirklichung ihrer Pläne stören. Wir können dafür sorgen, daß der Preis für sie hochgeschraubt wird. Nirgendwo soll mehr ungestört ein AKW gebaut und betrieben werden (Atom, Nr. 13, Jan./Feb. 1987).

Auch diese Bemerkung trifft ins Schwarze. Diese Lektionen der eigenen Bewegungsgeschichte stehen im Wendland gerade auf dem Lehrplan. Wolfgang Ehmke

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