■ Zehn Gebote für das deutsch-türkische Verhältnis: Das Ende der Geduld
Geduld kann eine Tugend sein, aber zuviel Duldsamkeit ist eine Torheit. Helmut Kohl hat viel Zeit und strapaziert unsere Geduld. Seine Ankündigung vom Juni 1993, in der Regierungserklärung zum Mordanschlag von Solingen, er werde „demnächst“ zu einem Gespräch einladen über die Möglichkeiten zur Bekämpfung der Gewalt, ist bisher nicht eingelöst worden. Würde das Gespräch im Kanzleramt doch noch stattfinden und würden dazu sogar Vertreter der Deutsch-Türken einladen, ihre Forderungen lägen klar auf dem Tisch. Sie betreffen die Zukunft der Bürgergesellschaft und der Demokratie in Deutschland, sie sichern den sozialen Frieden, und sie forsten die Monokultur des deutschen „Kulturgartens“ sichtbar und erfreulich auf:
1. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Türken und andere „Ausländer“, die seit langem in Deutschland leben oder hier geboren sind, haben einen festen Anspruch auf Einbürgerung bzw. sollen im Regelfall durch Geburt auf deutschem Gebiet (jus soli) automatisch deutsche Staatsbürger werden. Anders als dies die Mehrheit des Bundestages will und trotz mancherlei Bedenken vieler Staatsrechtler, wird die „doppelte Staatsangehörigkeit“, jedenfalls für eine Übergangszeit, hinzunehmen sein. Wer darüber klagt und für die Zukunft Loyalitätskonflikte und Rechtsstreitigkeiten en masse wittert, muß dies als Folge jahrelanger Versäumnisse einkalkulieren. Bereits jetzt haben Hunderttausende von Deutsch-Türken die Möglichkeit und den Rechtsanspruch, sich einbürgern zu lassen; dafür sollte von deutscher Seite geworben werden.
2. Das kommunale Wahlrecht für Nicht-EG-Ausländer. Ebenfalls gegen die herrschende Mehrheit und Meinung ist das kommunale Wahlrecht auch für solche seit langem in Deutschland lebende Ausländer zu fordern, die nicht aus EG-Staaten kommen. Es wäre eine große politische Torheit, sie Italienern, Spaniern und Griechen, demnächst vielleicht auch Polen oder Schweizern einzuräumen, nicht aber den größten Einwanderergruppen in Europa, die aus islamischen Regionen stammen (Nordafrika, Balkan, Türkei). So macht man aus ungeliebten „Gästen“ vollends marginalisierte politische Parias.
3. Wirksamer Schutz vor Diskriminierung. Haß- und Vorurteilsverbrechen, die sich in Deutschland außer gegen Sinti und Roma und bestimmte Gruppen von Asylbewerbern vor allem gegen Türken richten, dürfen nicht länger als Kavaliersdelikte hingenommen und beurteilt werden. Diskriminierungen müssen spürbare strafrechtliche Sanktionen nach sich ziehen; auf jeden Fall muß klarwerden, daß diese von der Mehrheit der Bevölkerung mißbilligt und geächtet werden. Volksvertreter und Meinungsmacher haben dabei eine große Verantwortung und Vorbildrolle.
4. Pädagogische Zukunftsinvestitionen. Wer andauernd die Gefahr wachsender Ausländerkriminalität an die Wand malt und zugleich die Mittel für die Jugendarbeit, berufliche Bildung und Familienfürsorge rigoros beschneidet, macht sich unglaubwürdig. Der Herausbildung eines türkischen Subproletariats muß man nicht tatenlos zusehen, und auch der unübersehbaren Gewaltkriminalität einer kleinen Minderheit unter deutsch-türkischen Jugendlichen kann man nicht mit der Androhung von Abschiebung beikommen. Wer unter ihnen nur noch mafiose drop-outs und fanatische Fundamentalisten wittert, verkennt den Optimismus, die Innovationskraft und den Ideenreichtum der Kinder und Enkel türkischer Einwanderer. Sie gehören ohne Zweifel zu den „Hoffnungsträgern“ der deutschen Gesellschaft. Ein deutsch-türkisches Jugendwerk könnte zur Verbreitung dieser Einsicht nützlich sein.
5. Ein deutsch-türkisches Altenprogramm. Es ist den meisten noch nicht klargeworden, daß die jungen Männer, die seit den sechziger Jahren aus der Türkei nach Deutschland kamen und seit den siebziger Jahren Familienväter wurden, heute zusammen mit ihren Frauen zu Zigtausenden ins Rentenalter kommen. Weit mehr als ihre Kinder und erst recht ihre Enkel stecken sie „zwischen den Kulturen“: Nach Hause können die meisten nicht mehr, ein Zuhause haben sie in Deutschland aber nie gefunden. Vielmehr stehen die Wohnungen und Häuser, die sie gebaut haben, um endlich anzukommen, heute unter Polizeischutz. Für die Grundbedürfnisse dieser Altersgruppe müssen staatliche Stellen, die Wohlfahrtsverbände und private Träger dringend ein Altenprogramm initiieren, das es der ersten Generation erlaubt, in Würde alt und gegebenenfalls in Deutschland begraben zu werden.
6. Ein ethnischer Arbeitsmarkt. Einwanderer, die ihr Arbeitsleben überwiegend als schlecht bezahlte, unqualifizierte Lohnabhängige begonnen haben, streben zur Selbständigkeit und werden unternehmerisch aktiv, mit ganz erstaunlichem Erfolg. Die Elitenbildung unter den Deutsch-Türken, auch im akademischen Bereich, ist im vollen Gange. Diese Chance für den deutschen Arbeitsmarkt ist noch gar nicht begriffen und noch weniger genutzt worden.
Selbst in Ostdeutschland, wo Türken trotz fehlender Präsenz schon genauso schlecht gelitten sind wie im Westen, treten Deutsch-Türken als Investoren auf und schaffen Arbeitsplätze. Wenn dieser Vorgang nicht endlich anerkannt wird und sich die Welle der Gewalt fortsetzt, werden türkische Unternehmer und Selbständige in einen Steuerboykott eintreten, dem sich auch viele Deutsche anschließen könnten. Ihr Ultimatum lautet, klassisch republikanisch: no taxation without representation. Öffentlicher Dienst und private Arbeitgeber müssen sich stärker für deutsch-türkische Mitarbeiter öffnen – nicht nur im Polizeidienst, worauf sich die Minister der Inneren Sicherheit in Bund und Ländern gern beschränken würden. In Kindergärten, Schulen und sozialen Einrichtungen ist multikulturelle Kompetenz dringend gefragt.
7. Ein „Konkordat“ mit den Muslimen. Auch wenn es im Islam keinen Klerus und keine Kirche gibt, müssen institutionelle Absprachen zwischen den deutschen Kultusbehörden und der islamischen Religionsgemeinschaft getroffen werden, die einen verfassungskonformen islamischen Religionsunterricht ermöglichen und die sich häufenden Schulkonflikte regeln, die meistens auf der Nichtanerkennung des Islam beruhen. Dabei gelten die Prinzipien des säkularen Staates, aber auch die grundsätzlich garantierte Religionsfreiheit. Der islamische Ritus, den die Deutsch-Türken in ihrer großen Mehrheit keineswegs integristisch auslegen, muß endlich aus der Nische herausgeholt werden, in der die „fundamentalistische“ Radikalisierung so gut gedeihen kann.
8. Kulturelle Autonomie für ethnische Minderheiten. Im deutsch- polnischen Vertrag von 1991 haben die deutschen Verhandlungspartner ein Maximum an kultureller Autonomie für die lange verfolgten und verfemten Polen- Deutschen herausgeholt. Darauf ist die Bundesregierung mit Recht stolz, und auch die meisten polnischen Stellen sehen darin mittlerweile einen Beitrag zur kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung dieses Teils Mitteleuropas. Ob die Deutsch-Türken den formalen Status einer ethnischen Minderheit beanspruchen sollten, ist durchaus fraglich und umstritten. Aber es wäre nur recht und billig, wenn auch ihnen garantiert wäre, was den Deutschen in Polen nun selbstverständlich gegeben ist: „einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen Mitgliedern ihrer Gruppe ihre ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität frei zum Ausdruck zu bringen, zu bewahren und weiterzuentwickeln; frei von jeglichen Versuchen, gegen ihren Willen assimiliert zu werden“. Das sind bemerkenswerte Grundsätze für einen künftigen „Bildungsgipfel“, der die besonderen Probleme und Ressourcen der ethnischen Gruppen nicht aussparen darf, und schöne Leitmotive interkultureller Erziehung in Schulen und Universitäten.
9. Gleichberechtigung und Autonomie deutsch-türkischer Frauen. Zur kulturellen Autonomie gehört selbstverständlich das Recht in Deutschland lebender Türkinnen, ihre Lebensweise selbst auszusuchen und zu gestalten. Diesem Wunsch stehen bislang zwei intolerante Leitbilder entgegen: die traditionelle Frauenrolle, die sich übrigens nur schwer aus dem Koran und der islamischen Überlieferung legitimieren läßt, und das säkulare Vorbild „gelungener“ Frauenemanzipation im Westen. Zur Autonomie der Deutsch-Türkinnen gehört sicher, diesen Leitbildern nicht zu folgen und einen eigenen, womöglich islamischen Weg der „Emanzipation im Schleier“ zu gehen. Gleichberechtigung ist nicht allein im Sinne juristischer Gleichstellung, sondern auch unter dem Respekt der Geschlechterdifferenz zu erreichen.
10. Das Ende des deutschen und türkischen Paternalismus. Es wird immer klarer, daß die deutsche Seite – Regierung, Sozialbürokratien, Medien – nicht mehr „väterlich“ über die türkischen Einwanderer verfügen kann. Die Deutsch- Türken sprechen für sich selbst, in vielen verschiedenen Zungen. Ebensowenig werden ihre Standpunkte noch von türkischen Regierungsvertretern oder Medien repräsentiert. Der wichtigste Bezugspunkt ist die deutsche Gesellschaft und Politik geworden, immer weniger die Konstellationen in Ankara und anderswo in der „Heimat Türkei“. Politik in Deutschland kann nicht gegen und auch nicht mehr ohne die ethnischen Minderheiten gemacht werden. Claus Leggewie
Gekürzter Vorabdruck aus dem am 1. Oktober erscheinenden zweisprachigen Rowohlt-TB „Deutsche Türken – Türk Almanlar“, hrsg. von Claus Leggewie und Zafer Senoçak
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