ZWISCHEN DEN RILLEN : Hier schreibt die Interpretin noch selbst
Alicia Keys und Kelis versuchen, ein Gegenbild zu „Superstars weltweit“ zu entwerfen, kommen aber aus der gleichen Matrix
Junge Frauen am Klavier, das ist der Antidot, den der musikalisch-industrielle Komplex all jenen anbietet, denen die Plastikwelt der Castingshows nicht behagt und die das Nichtskönnertum der dortigen Superstars ablehnen, weil Kunst in Wirklichkeit von Können komme. Junge, gut aussehende Überfliegerfrauen wie Norah Jones und Alicia Keys, die den Faden dort wieder aufnehmen, wo der Musik einst die Seele ausgetrieben ward. Damals, als das Telefon noch eine Wählscheibe hatte und Tagebücher noch mit der Hand geschrieben und nicht als Blog ins Internet gestellt wurden.
Als sie vor drei Jahren ihr Debütalbum herausbrachte, wurde Alicia Keys ein Empfang bereitet, wie ihn nur wirkliche Wunderkinder erleben dürfen. Aufgewachsen in der Upper West Side New Yorks, soll Keys schon als Kind so talentiert gewesen sein, dass sie eigene Songs geschrieben habe und aufgetreten sei. Als 16-Jährige, so die Geschichte, habe der Whitney-Houston-Entdecker Clive Davis sie in einem Club spielen gesehen und ihr einen Vertrag unterbreitet, der ihr volle kreative Kontrolle und viel Zeit für die künstlerische Identitätsfindung garantiert habe. Ein weiser Schritt: Keys Mischung aus klassischem Soul mit leichten HipHop-Einsprengseln wurde nicht nur mit fünf Grammys ausgezeichnet, er verkaufte sich auch mehrere Millionen Mal.
„The Diary of Alicia Keys“ hat die New Yorkerin nun ihr zweites Album betitelt, als wolle sie betonen, dass die Interpretin hier noch selbst schreibt. Und tatsächlich: Das einzige Stück ihres neuen Albums, bei dem sie nicht in der Autorenzeile geführt wird, ist eine Coverversion, die die Klassiker „Walk On By“ und „If I Was Your Woman“ übereinander blendet. Burt Bacharach und Gladys Knight – eine solche Lesart der Tradition ist dann ja schon fast so gut wie selbst schreiben.
Mit schöner Stimme und sicherem Tastaturgefühl arbeitet sich Keys durch den Katalog der klassischen Soulgefühle: Du kennst meinen Namen nicht, aber ich sehe dich jeden Tag und möchte mit dir zusammen sein. Wenn ich dich nicht hätte, sähe mein Leben düster aus.
Doch so perfekt „The Diary of Alicia Keys“ ist: Was hier zum Tönen gebracht wird, ist im Grunde nichts anderes als die Gegenseite des „Superstar Weltweit“-Sounds. Zwar ist es ein Unterschied ums Ganze, ob man bei Dieter Bohlen oder Donnie Hathaway in die Schule gegangen ist. Doch das ist nur das, was man hört. Die Matrix, aus der heraus diese Musik entstanden ist – und vor allem vermarktet wird –, ist im Grunde dieselbe.
Hier wie da stützt sie sich auf Geschichten, die von glamouröser Arbeit erzählen, von maximaler Nutzung künstlerischer Ressourcen. Es sind Erzählungen von handwerklicher Perfektion: Davon, wie Ausbildung auszusehen habe, und davon, wie sich ein Leben lebt, dem der Imperativ der ständigen Fortbildung zugrunde liegt. Der einzige Unterschied liegt in der Betonung: In dem einen Fall liegt der Akzent auf dem proletarischen Du-hast-nur-eine-Chance-nutze-sie, im anderen Fall auf dem bürgerlichen Geniebegriff.
Hätte sie in ihrem bisherigen Berufsleben nicht so viel Pech gehabt – man wäre versucht, Kelis zu einem erfolgreichen Gegenmodell zu Alicia Keys zu stilisieren. So ist sie zwar ein Gegenmodell, aber ein recht erfolgloses. Genauso alt wie Keys, wuchs sie ein paar Blocks nördlich auf, als Kind des schwarzen New Yorker Bürgertums. Als Teenager haute sie von zu Hause ab, färbte sich die Haare und fing an zu singen.
Ihr erstes Album „Kaleidoscope“ machte sie dann zur großen Nachwuchshoffnung des R&B. Es war eine der ersten, spektakulären Produktionen der Neptunes, jenes mittlerweile erfolgreichsten Produzententeams des HipHop. Doch von da an ging es bergab. Ihr zweites Album veröffentlichte die Plattenfirma nur in Europa, wo es zwar wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde, mehr aber auch nicht.
Mit „Tasty“, ihrer neuen Platte, sollte nun alles anders werden. „Milkshake“, die großartig obszöne Single, in der Kelis über einem windschiefen Neptunesbeat davon singt, dass alle Jungs verrückt werden, wenn sie ihre Milch schüttelt, sollte Kelis endlich zu der Größe führen, der sie seit Jahren vergeblich entgegenstrebt. Doch es wird nichts. Erst wurde der Veröffentlichungstermin endlos nach hinten verschoben, dann kurzfristig vorgezogen. Nun ist die Platte da und man muss feststellen, dass nichts zusammenläuft. „Tasty“ hört sich an, als sei das Planungschaos ihrer Veröffentlichung nur die Doppelung ihres ästhetischen Durcheinanders. TOBIAS RAPP
Alicia Keys: „The Diary of Alicia Keys“ (J-Records); Kelis: „Tasty“ (Virgin)