ZWISCHEN DEN RILLEN : Aufwühlende Psychedelik
Current 93 „Baalstorm, Sing Omega“ (Coptic Cat)
Am Anfang ein ruhiges Klavier, am Ende rauschendes Wasser: Für wen ihr neues Album „Baalstorm, Sing Omega“ die erste Begegnung mit Current 93 ist, wird es kaum glauben wollen: Das schillernde Kollektiv um den britischen Sänger, Maler und Autor David Tibet wurde einst unter Industrial eingeordnet.
Der Bandleader selbst möchte sein Frühwerk nicht so bezeichnen. Maschinenlärm wird man auf „Baalstorm, Sing Omega“ vergeblich suchen. Harmlos ist die Musik trotzdem nicht. Sie beendet eine Trilogie, zu der „Black Ships Ate The Sky“ (2006) und „Aleph At Hallucinatory Mountain“ (2009) gehören, und ist hochgradig aufwühlend.
Meinte man früher in Tibets Stimme das blanke Entsetzen über die Möglichkeiten des Menschen zu hören, so sind da längst auch Freude und Dankbarkeit. Hinzu kommt stille Trauer. Er singt von privaten Entdeckungen in einer Welt, die stets auf der Kippe steht. Den musikalischen Rahmen bilden Piano, Orgel, Gitarre und Glockenspiel. Dann sind da subtile elektronische Störgeräusche und orientalische Klangfarben, Cello und Perkussion. Die Besetzung von Current 93 auf „Baalstorm, Sing Omega“ besteht neben Tibet aus Baby Dee, James Blackshaw, Andrew und Melon Liles, John Contreras, Alex Neilson, Eliot Bates und den Kindern Bea und Isabel Taylor.
Es empfiehlt sich gründlich das Cover anzuschauen: Ein naiv-expressionistisches Gemälde und ein Kinderfoto des Sängers in Stonehenge geben Hinweise auf die Welt von Current 93. Ein Begriff, mit dem Tibet mehr anfangen kann als Industrial, ist Psychedelik. Simon Reynolds vertritt in seinem Postpunk-Buch „Rip It Up And Start Again“ die These, dass beide Genres vieles gemein haben. Reynolds nennt Industrial „die zweite Blüte einer authentischen Psychedelia“. Das passt. Ob harsch oder subtil: Bei Current 93 geht es um Klangräume. Ihr Mitarchitekt, Steve Stapleton von Nurse With Wound, steht nicht im Line-up.
Präsent ist Stapleton trotzdem, schreibt Tibet in der umfangreichen Dankesliste. Er dankt ebenso seinem Schulfreund, dem Schriftsteller Sebastian Horsley. Der ist am 17. Juni in London gestorben. Vorher konnte er noch die beiden Konzerte ankündigen, mit denen Current 93 das neue Album Ende Mai vorstellten. Ihr langjähriger Hauskomponist Michael Cashmore war gekommen. Bill Fay, der Singer-Songwriter aus den frühen Siebzigern, hatte einen Gastauftritt.
Und Current 93 präsentierten nicht nur ihr neues Material. Sie spielten „Falling Back In Fields Of Rape“. Der Track findet sich auf ihrem zweiten Album „Dogs Blood Rising“ (1984). Im Orwelljahr machten sie eine Musik, die dem ihnen ungeliebten Label Industrial nahe kam. Es gibt mehr als einen roten Faden in diese Zeit. Auf der Innenhülle ihres Debüts „Nature Unveiled“ verkündet ein mit Ducasse (Lautréamont) und Christ 777 (David Tibet) unterzeichnetes Manifest: „Pope: Antichrist! / Government: Antichrist! / You lords and clergy: Antichrist! / We declare you Anathema / Excommunicans.“ Das ist religiöse Inbrunst in der Diktion des Punk. Einige der Anarchopunks von Crass haben mit Current 93 zusammengearbeitet. Man kann einen Bruch verorten, der etwa mit „Swastikas For Noddy“ (1988) einsetzt. Auf dem Album schlossen sie sinistren Folk mit experimentellen Klängen kurz. Mit „Thunder Perfect Mind“ (1992) wurden sie gar eine richtige Folkband. Man kann von da eine Linie zu ihrem aktuellen Sound ziehen. Die Inbrunst ist immer noch da. Sie klingt nur anders. ROBERT MIESSNER
■ Steven Stapleton, Andrew Liles und David Tibet am 27. 8. in Berlin/Schlagstrom Festival