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Archiv-Artikel

ZWISCHEN DEN RILLEN Man kann auch ohne Zeigefingerkuppe die Sportschau sehen

Locas in Love, „Lemming“ (Staatsakt/Indigo)

Ausgerechnet die Kölner Band Locas in Love stellte im schottischen Studio von Produzent Paul Savage alles in den Schatten

Der schottische Plattenproduzent Paul Savage hat schon manches gesehen: In seinem Studio nahe Glasgow veredelte er etwa die Musik von Bands wie Mogwai und Franz Ferdinand. Die waren mit 18 Gitarren angerückt, um ihr Album „Tonight“ aufzunehmen. Ausgerechnet die Kölner Band Locas in Love stellte alles in den Schatten. Für ihr Album „Lemming“ hatten sie mehr als 30 Gitarren im Gepäck. Dabei sprach Ende 2009 alles gegen eine Reise nach Schottland.

Kurz vor Aufnahmebeginn stürzte Gitarrist Jan-Niklas Jansen vom Rad. Und Stefanie Schrank, Bassistin und Sängerin der Locas in Love, hatte sich die linke Zeigefingerkuppe abgeschnitten. Auch Gitarrist Björn Sonnenberg demolierte sich bei einem Treppensturz das linke Knie. Das Pech blieb ihnen hold: Ihr Bandbus gab den Geist auf, das neu gekaufte Auto verabschiedete sich auf dem Weg zur Fähre. Und als wäre das nicht genug, entwickelte auch der Mietwagen ein seltsames Eigenleben. Trotzdem fuhren sie weiter: „Wir dachten, wenn wir einen gewissen Tiefpunkt erreichen, wird danach automatisch alles gut“, sagt Sonnenberg im Rückblick.

Das passt auch zu ihrer Musik: Locas in Love schaffen es, hoffnungslose Sachen hoffnungsvoll auszudeuten. „Es geht darum, warum man etwas durchzieht und immer weitermacht, obwohl es von außen merkwürdig erscheint“, sagt Jansen über das neue Album „Lemming“. Vom Folk-Sound des Vorgängers „Saurus“ wollten sich Locas in Love emanzipieren. Auf „Lemming“ finden sich neben Gitarren, Bass und Schlagzeug auch Glockenspiele, Trompeten, unzählige Tasteninstrumente – sogar ein Punkrock-Seemannschor ist zu hören. Die Songs sind mal ruhig, mal laut – mal sind sie fast klassischer Indie-Rock, mal klingt es heftig nach Noise, mal ist es Shoegaze. Man kann diese Band einfach nicht einordnen, so unendlich groß ist ihr Repertoire. Nicht einmal das Internetlexikon Wikipedia, das sonst alles weiß, ordnet Locas in Love einer Stilrichtung zu.

Auch an ihre Texte formulieren die Musiker hohe Ansprüche. „Es ist verboten, einen Satz ohne Wahrheit und ohne Kraft zu singen oder zu schreiben, nur um das Papier zu füllen“, sagt Sonnenberg. In den Texten geht es dann um Grundsätzliches, ums Verändern, Fortgehen, Ankommen und Auslöschen.

„Also versuchen wir die Welt mit einem Song zu zerstören – oder zumindest all das, was uns an ihr so stört“, singt Sonnenberg in dem Song „Una Questa“. Die Musik ist düsterer geraten als auf „Saurus“. Aber das Ende von allem schreckt die Band nicht. Wichtiger ist ihnen, was danach kommt. „Wie Insekten zum Licht / Kröten auf die andere Seite / Lemminge, die ins Nichts traben / suchen wir einen Ort / von dem wir glauben / dass wir es dort besser haben“, heißt es in dem Song „An den falschen Orten“. Das Hoffnungsvolle im Hoffnungslosen eben.

Ihre liebevolle, fast perfektionistische Art, Musik zu machen, hat zahlreiche Fans. Reich werden Locas in Love nicht, aber das ist auch nicht oberste Priorität der Band. Sie müsse sich sonst den Mechanismen der Musikindustrie unterwerfen und Kompromisse im Sound machen. „Das entspricht nicht der Art, wie wir Musik machen“, sagt Stefanie Schrank.

Erfahrungen mit Majorlabels haben die Kölner reichlich: Mit ihrem Zweitprojekt Karpatenhund machen sie radiotaugliche Musik und standen sogar bei Virgin unter Vertrag. Ihr Song „Gegen den Rest“ wurde Titelmelodie der ARD-Vorabendserie „Türkisch für Anfänger“.

„Das, was wir damit überhaupt erreichen konnten, haben wir auch erreicht“, sagt Sonnenberg. Alle Locas-in-Love-Mitglieder arbeiten nebenbei. „Wir machen das, was wir mögen, und sind nicht davon abhängig, was dem Mainstream gefällt“, sagt Schrank. Und die Sache mit den vielen Gitarren in Schottland erklärt Sonnenberg wie folgt: „In jedem Instrument steckt ein eigener Song, der auch nur in diesem Instrument steckt und in keinem anderen, und deshalb braucht man die große Auswahl.“ Mit den Aufnahmen bei „Lemming“ waren Locas in Love mehr als zwei Jahre beschäftigt. Die Arbeit hat sich gelohnt. FRANZ NESTLER