ZUR SACHE: Geld für Doppelgänger
■ Obdachlosenpensionen verschlingen Millionen
Jedes Jahr bricht der Winter auf die SozialpolitikerInnen wie ein unvorhergesehenes Naturereignis herein. Die Obdachlosenpensionen sind überfüllt, und die Betreiber dieser Einrichtungen können von den bezirklichen Sozialämtern fast jede Summe verlangen. Durchschnittlich 30 Mark erhält ein Pensionsbetreiber pro Nacht für ein Bett in einem Vierbettzimmer — doppelt soviel wie vor drei Jahren. Der Bezirk ist gesetzlich verpflichtet, seine Obdachlosen unterzubringen. Versuche einzelner Bezirke, allzu unverschämt einfordernde Einrichtungen einfach nicht mehr zu belegen, werden von anderen Bezirken regelmäßig torpediert. So geschehen bereits 1986 in der jüngst in die Schlagzeilen geratenen Pension »Haus Sonnenschein«. Schon damals war bekannt, daß der Betreiber mehr Betten vergab, als aufgrund der baulichen Gegebenheiten genehmigt wurde. Also wurde aus Kreuzberg niemand mehr dort untergebracht. Doch die übrigen Bezirke belegten nach wie vor. Daß die Pensionen meist in miserablem Zustand sind, schlägt für die Betreiber doppelt zu Buche: Viele Obdachlose brauchen die Pension, um sich anmelden zu können, halten sich aufgrund der miserablen Bedingungen dort aber lieber in S-Bahnen oder leerstehenden Gebäuden auf. Also können die Betreiber die Betten doppelt belegen. Eine Auskunftspflicht gegenüber dem Sozialamt besteht nicht.
Wie hoch die Summen sind, die auf diese Weise Jahr für Jahr verschleudert werden, verdeutlicht eine Vergleichsstudie des Sozialpädagogikprofessors Otto Schlosser. Demnach macht ein Pensionsbetreiber mit zehn Bettplätzen einen Jahresumsatz in Höhe von 100.000 Mark. Für den gleichen Umsatz muß ein Schöneberger Vermieter 13 Wohnungen à 70 Quadratmeter unterhalten. Besonders perfide ist die Praxis, zusätzlich Wohnungen für Obdachlose anzumieten und über die Sozialhilfe weit über dem Mietpreis zu finanzieren.
Aus gutem Grund also glaubt die Kreuzberger Sozialstadträtin Junge-Reyer, von den zehn Millionen, die Kreuzberg jährlich für die Unterbringung Obdachloser ausgibt, mindestens sieben Millionen einsparen zu können. Dann allerdings müßten Alternativen zu den jetzigen Pensionen vorhanden sein. Doch keiner der Bezirke mag den bestehenden Verhältnissen so richtig zu Leibe rücken. Schließlich stammen die Gelder nicht aus dem Bezirkssäckel, sondern — weil Sozialhilfe — aus dem Landeshaushalt. Der Senat, in persona Sozialstaatssekretär Tschoepe, beruft sich wiederum darauf, daß die Unterbringung von Obdachlosen Bezirksangelegenheit sei, da könne nicht zentral hineinregiert werden.
Doch die Bezirke können sich noch nicht einmal auf einen Mindestqualitätsstandard für Pensionen einigen. Dennoch — der Plan Junge-Reyers, Gewerbe-, Bau-, Wohnungs- und Sozialamt an einen Tisch zu bringen, könnte ein Schritt nach vorne sein. Geschehe dies in jedem Bezirk, ließe sich schnell ein Überblick über Zahl und Praktiken der Pensionsbetreiber gewinnen — und Mißbrauch und Doppelbelegung unterbinden. Doch über die Einrichtung einer Arbeitsgruppe sind diese Überlegungen noch nicht hinaus. Martina Habersetzer
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