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ZUKUNFTSVISIONENVorruhestand und Klassenkampf

■ Wie Blüm, SPD & DGB eine ganze Generation wegbilanzieren

Äußerlich geht es um Routine, um einen der vielen Versuche, die sozialen Folgen der Einheit „abzufedern“. Doch der Schein trügt. Es klingt nicht schlecht, wenn die Kurzarbeiterregelung abermals um ein halbes Jahr verlängert und gleichzeitig der Zeitpunkt für den „freiwilligen“ — d.h. via Arbeitsmarkt erzwungenen — Vorruhestand auf 55 Jahre für Männer abgesenkt wird, die Frauen kommen bereits mit 54 dran. Beides zahlt das Arbeitsamt, und dafür sind die Arbeitslosenbeiträge gerade um einen Prozentpunkt angehoben worden.

Noch vor einem dreiviertel Jahr tat Bundesarbeitsminister Blüm die Segnungen der „Sozialunion“ kund: Die OstbürgerInnen sollten und wollten mit der Gewißheit in die Einheit taumeln, daß jenes in der Welt so einmalige soziale Netz unter ihnen aufgespannt sei. Heute spricht Blüm geschäftsmäßig, nüchtern von „Maßnahmen“, von der „Entlastung des Arbeitsmarkts“. Er weiß die Sozialdemokraten und den Deutschen Gewerkschaftsbund auf seiner Seite — und Möllemann hält wenigstens den Mund. Ein paar schlichtere Gemüter mißverstehen Blüms Maßnahmenbündel als banales Manöver, die Arbeitslosenstatistik nach unten zu frisieren.

Aber es geht um mehr. In Ostdeutschland werden Industriezweige stillgelegt und abgewrackt, Bibliotheken auf die Müllkippe geworfen, Obstbäume, deren Früchte nicht nach EG-Norm wachsen, zu Hunderttausenden gefällt. Das war und ist keine Überraschung, sondern logische Folge jenes Weges zur Einheit den die Deutschen und ihre Regierungen wählten.

Beim Zusammenbruch einer Gesellschaft, die dermaßen der Ideologie der Arbeit verpflichtet war wie die DDR, kann es nicht wundernehmen, wenn die Menschen, die früher unter dem Begriff variables Kapital gefaßt wurden, im Gleichschritt mit den Maschinen, dem fixen Kapital also, verschrottet werden. In Deutschland unerträglich der Gedanke, dieser Prozeß könnte sich regellos und anarchisch vollziehen. Durch die Blümschen Verregelungsmaßnahmen werden nicht irgendwelche Menschen ins Nichts geworfen, es werden Klassen geschaffen: eine genau umgrenzte Gruppe, die Menschen einer bestimmten Generation werden regelrecht abgeschrieben. Es sind die über 45jährigen, also mehr als ein Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung in der ehemaligen DDR. In der Eröffnungsbilanz der neuen Bundesrepublik schlagen sie als Altlast zu Buche. Was der oberste Sozialbuchhalter Blüm, vom deutschen Rausch geküßt, nicht wahrhaben wollte, das versucht er nun wegzubilanzieren.

Vorausgesetzt die sozialpolitisch- ideologischen Rahmenbedingungen bleiben die, die sie sind, dann könnte die Arbeits- und Sozialkarriere eines Ex-DDRlers, der zum Zeitpunkt der Währungsunion 45 Jahre alt war, im Jahr 2020 etwa so ausgesehen haben: 1990 beträgt sein Einkommen 1.300 Mark, anschließend bezieht er zwei Jahre lang Kurzarbeitsgeld, dann ein Jahr Arbeitslosengeld; 1994 wird der Mann für zwei Jahre Objekt einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme — „ökologisch nützlich“, versteht sich —, anschließend empfängt er wieder Arbeitslosengeld, dann, der Vorruhestand wird ein weiteres Mal herabgesetzt, scheidet er 1998 aus dem Arbeitsmarkt aus: nach fünf Jahren Vorruhestand folgt im Jahr 2003 die Rente. Die Lebenshaltungskosten steigen in dieser Zeit kontinuierlich, die Einkünfte und Arbeitsamtsleistungen des fiktiven Herrn Mustermann-Ost pendeln zwischen 800 und 1.100 Mark. Mit Hilfe verschiedener Rentenanpassungsgesetze wird erreicht, daß seine Monatsrente schließlich — Gnade vor Leistungsgrundsatz! — so weit angehoben wird, daß sie knapp über dem Sozialhilfesatz liegt. Um die Beiträge für den unentwegt produzierenden, Werte und Exportgüter schaffenden Rest nicht übermäßig ansteigen zu lassen, dürfen junge Rumänen, Tschechen und Polen immer mal für fünf Jahre in Deutschland so richtig modernes Arbeiten lernen, Deutschmark nach Hause transferieren und hier Sozialabgaben zahlen. Stichwort: europäische Solidarität.

Während seiner beiden letzten Lebensjahre verursacht unser Durchschnittsmann noch einige zehntausend Mark Kranken- und Pflegekosten und stirbt dann, entsprechend seiner statistischen Lebenserwartung, am 31. Dezember 2020. Vier Wochen später sind die Begräbniskosten abgerechnet und — „deleate“ —, die Versicherungsnummer ist gelöscht. Während sich in den Bitterfelder Bächen wieder die Forellen tummeln, hat es immerhin dreißig Jahre gedauert, bis jenes überflüssige Humankapital abgebaut werden konnte, das die SED-Mißwirtschaft hinterlassen hatte. Die Frankfurter Devisenbörse reagiert sofort: der Dollar steht 1:0,99. Götz Aly

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