„Wunden, die die Zeit nicht heilt“

„Psychische Schäden alternder Überlebender des Naziterrors und ihrer Nachkommen“ / Ein Kongreß in Hannover / Erste Tagung in der BRD, die sich mit den psychischen Leiden von Naziopfern beschäftigt  ■  Aus Hannover Jürgen Voges

„Die Folgen von Nazi-KZ-Lagern: Gestern - Heute - Morgen“, mit diesem nüchternen Titel versah Professor Leo Eitinger aus Oslo den Vortrag, mit dem er in der Medizinischen Hochschule Hannover den internationalen Kongreß „Psychische Schäden alternder Überlebender des Naziterrors und ihrer Nachkommen“ eröffnete. In den vergangenen 30 Jahren hat der norwegische Wissenschaftler KZ-Überlebende aus fast allen europäischen Ländern psychiatrisch untersucht und doch, so sagte er eingangs am Mittwoch, wäre er bei Ausarbeitung seines Vortrages fast verzweifelt.

Er stellte dann mehr Fragen, als daß er Antworten gab: „Wie soll ich verständlich machen, was es bedeutet, buchstäblich im Schatten der Kamine von Krematorien zu leben, unter dem unaufhörlichen Rauch, der fetter, dunkler und bedrohlicher wurde, immer dann, wenn ein neuer Häftlingstransport ankam, und dies geschah fast jeden Tag?“ - „Wie kann man selbst begreifen, wie kann man dieses Begreifen irgend jemanden vermitteln, was diese Überlebenden an Hunger und Durst, an Verzweifelung und Hoffnungslosigkeit, an Leiden und Prüfungen, aber auch an Warten und Hoffen, an Sehnsüchten und Träumen gelitten haben?“

Und Professor Eitinger fügte hinzu: „Das Aufwachen aus dem Alptraum ihrer Lagerhaft war für die Mehrzahl der Überlebenden wahrscheinlich noch schmerzhafter als die Gefangenschaft selbst. Nun konnte man das, was geschehen war, nicht länger verdrängen.“ Trotz all seiner Untersuchungen hat der Wissenschaftler, der selbst aus dem Lager befreit wurde, keine Anwort auf die Frage finden können, „ob es möglich ist, irgendeinen Sinn in dem Leben nach dem Holocaust zu finden“.

Der norwegische Wissenschaftler sprach in der Medizinischen Hochschule vor 350 Wissenschaftlern und Überlebenden, die aus West- und Osteuropa, aus Israel, Nord- und Südamerika und eben auch aus anderen Teilen der Bundesrepublik nach Hannover angereist waren. Der wissenschaftliche Kongreß in Hannover war der erste auf dem Boden der Bundesrepublik, der ausschließlich die psychischen Leiden der Überlebenden des Naziterrors zum Thema machte, die Folgen der „lang andauernden exzessiven Traumatisierung“ untersuchte, die Professor Eitinger zufolge bei den KZ-Überlebenden durch zahlreiche Untersuchungen aus aller Welt belegt sind.

Aber auch nur wenige dieser Untersuchungen stammen aus der Bundesrepublik. „Die deutschen Studien, sofern vorhanden, behandelten zumeist Entschädigungsfragen, was sich als schwieriges Feld erwies, wenn man den Zustand der deutschen Psychiatrie vor, während und auch direkt nach der Zeit des Krieges bedenkt“, beschrieb Leo Eitinger eingangs eher diplomatisch das Versagen der deutschen Ärzteschaft. Der Heidelberger Psychiater Heinrich Hübschmann begründete drastischer schon zu Beginn des Kongresses dieses Versagen mit dem schlichten Hinweis auf die Traditionen der deutschen Mediziner: „Die deutschen Ärzte seien eben im Faschismus überproportional aktive Parteigänger der Nazis gewesen.“

Als eine erste Tagung in der Bundesrepublik zu einer Problematik, „für die die Zeit davonläuft“, so hatte die Medizinische Hochschule Hannover noch den Kongreß angekündigt. Doch nach überreinstimmender Meinung der in Hannover versammelten Psychologen und Psychiater gilt der Satz: „Die Zeit heilt die Wunden“ nicht für die Überlebenden der Konzentrationslager. „Die Stärke, um alte Erinnerungen zu verleugnen oder zu bekämpfen, schwindet im Verlaufe ernsthafter Erkrankungen oder, wenn unsere Vitalität durch andere Ursachen geschwächt wird, zum Beispiel durch das Alter, beschrieb Professor Eitinger die Wiederkehr der mühsam verdrängten Erinnerungen in den späten Lebensjahren.

Zu einer Retraumatisierung der Überlebenden des Holocausts im Alter könne es immer bei schlimmen Ereignissen kommen, erläuterte vor der Presse Professor Haim Dasberg aus Jerusalem, etwa dann, „wenn der Lebenspartner oder ein Kind stirbt“. Noch heute stünde bei einem Viertel der Patienten in psychiatrischen Kliniken Israels deren Leiden in Zusammenhang mit ihrer Verfolgung.

Geradezu nüchtern faßte Professor Eitinger die beiden wichtigsten negativen Ergebnisse der bisherigen Forschung über das Leiden der Überlebenden zusammen: „Eine hohe Psychoserate und eine „höhere Mortalität“, Todesfälle aufgrund autodestruktiven Verhaltens wie Selbstmord, Unfall, Tötung, seien unter den Überlebenden extrem häufig.

Etwa 14 Millionen Menschen, so schätzt man auf dem Kongreß, sind insgesamt „durch die Lager des deutschen Faschismus gegangen“. Die Mehrzahl derjenigen, die befreit werden konnten, lebt in allen Teilen der Welt zerstreut noch heute. Sie haben noch heute „das Nichtbewältigbare zu bewältigen“, wie ein Titel einer der 10 Arbeitsgruppen des Kongresses in Hannover lautete. Ihre Verfolgungssituation wirkt auch bei ihren Kindern in der zweiten Generation nach. Von einer „transgenerationalen Transmission des Traumas“ und davon, „daß heute niemand mehr ernsthaft bestreite, daß die massiven psychischen Traumatisierungen der überlebenden Opfer auch Einfluß auf die nach der Befreiung geborenen Kinder“ gehabt habe, sprach in Hannover etwa Ludwig Haesler aus Hofheim.

Die Psychiatrie allerdings kann diese Leiden, so postulierte in Hannover unwidersprochen Hans-Joachim Herberg aus Köln, nicht heilen, sondern nur lindern. Die Leiden der Überlebenden in der Bundesrepublik lindern helfen müsse aber auch die Politik. Dr. Herberg vom Kölner „Dokumentatitionszentrum für Gesundheitsschäden nach Gefangenenschaft und Verfolgung“ betonte, wie wichtig gerade auch in psychischer Hinsicht für die überlebenden Opfer die Anerkennung als Verfolgte nach dem Bundesentschädigungsgesetz ist. Bei dieser Anerkennung ginge es nicht in erster Linie um eine materielle Sicherung, sondern darum, daß der Schädiger, dem Opfer bestätige, „was ihm angetan worden ist“.

Auch die, die heute in der Bundesrepublik immer noch vergeblich um eine solche Anerkennung und Entschädigung kämpfen, waren zu dem Kongreß in Hannover geladen. Die Leiden nach ihrer Zwangssterilisation beschrieb Klara Nowak vom Bund der Euthanasiegeschädigten mit den Sätzen: „Noch schnürt sich mir die Kehle zu, wenn ich Nachbarn von ihren Kindern sprechen höre, die ich nie haben konnte.“ Keinen Schirmherrn und keine Lobby hätten die Hunderttausenden von Opfern der Euthanasie in der Bundesrepublik.