Wühltisch: Erlebnis Sitzen
■ Vom Wohngemeinschaftsklappstuhl zum Edelschwinger
Die Wohngemeinschaftswelt der siebziger Jahre hatte ein problematisches Verhältnis zum Komfort. Schaumstoffmatratzen auf dem Fußboden dienten als Bett, Kisten aller Art ersetzten Schrankmöbel. Allein die Stereoanlage wurde auf sorgsam mit der Wasserwaage angebrachtem Regal – soll man sagen: altarähnlich? – plaziert. In der Eßküche, dem geselligen Zentrum einer WG, hockte man meistens auf Klappstühlen. Trotz pathetischer Formeln vom Kommuneleben schien man zu spüren, daß diese Lebensform improvisiert war. Die Einstellung zur Bequemlichkeit hatte etwas Mittelalterliches, wo man eher hockte als saß.
Noch um 1500 wurden Tisch und Stuhl gleichzeitig als Behälter verwandt. Man saß auf Truhen, in denen im Fluchtfall schnell alle Habseligkeiten verstaut werden konnten. Der Geist der Kommune schien einer ähnlichen Mobilität verpflichtet. In seinem bemerkenswerten Buch „Die Herrschaft der Mechanisierung“ schreibt Siegfried Giedion, daß der klassische Mies-van-der- Rohe-Freischwinger, der Ende der siebziger Jahre von avancierten Kreisen als universelles Sitzmöbel wiederentdeckt wurde, seinen Vorläufer im Fahrersitz amerikanischer Landmaschinen hatte. Mobilität, Bodenständigkeit und Komfort fanden nun zu einer Einheit.
Seither ist sehr viel geistige Anstrengung auf das Design von Stühlen und Sesseln verwandt worden. Sogar Jean-Luc Godard und Jean Baudrillard konnten als Werbeträger für Drahtstuhlgestelle verpflichtet werden. Vom bloßen Hocken ist man zum Erlebnissitzen übergegangen.
Die norwegische Firma Stokke, bei jungen Eltern vor allem wegen des äußerst stabilen, standfesten und verstellbaren Kindersitzes bekannt, bietet eine breite Palette an dynamischen, Bewegung fördernden Stühlen, ja sogar Tischen. Stokke Actulum ist ein Kufenstuhl, der die Eigenschaften von Büro- und Schaukelstuhl zu verbinden scheint. Die Sitzmöbel folgen der Erkenntnis, daß Arbeit und Freizeit nicht mehr voneinander zu trennen sind. Stokke Ekstrem, Ansichtsexemplare finden Sie in Ulrich Meyers Sat.1-Sendung „Die Menschen hinter den Schlagzeilen“, bietet sich nicht nur als Sessel, sondern außerdem als moderne Skulptur an. Von der nächtlichen Küchen-Diskussion über den Fetischcharakter zum Conservation-piece.
Doch auch das Hocken gibt's bei Stokke noch: Move heißt eine besonders komfortable Ausführung des Arbeitssitzes, der in hiesigen Designer-Kreisen als Stitz (Stuhlsitz) bekannt ist, bestens geeignet für den Bauch des Architekten. Das Stokke-Selbstbewußtsein, um noch dies zu sagen, drückt sich besonders in den verschiedenen Ausführungen des Modells Thatsit aus. Der Name ist hier Programm.
Angesichts der vielfältigen Formen beschwingten Sitzens in unseren Tagen sollte man noch einen Aspekt nachtragen, auf den Elias Canetti hingewiesen hat. „Der Stuhl in der Form, wie wir ihn heute kennen, leitet sich vom Thron ab; dieser aber setzt unterworfene Tiere oder Menschen voraus, die den Herrscher zu tragen haben.“ Das Fehlen des Sitzkomforts im mittelalterlichen Alltag drückt nach Canetti weniger Primitivität als vielmehr einen anderen Umgang mit Macht aus. „Die Variationen des Sitzens sind im Grunde immer Variationen des Drucks. Gepolsterte Sitze sind nicht nur weich, sie vermitteln dem Sitzenden ein dunkles Gefühl davon, daß er auf Lebendem lastet.“
Der Klappstuhl der Wohngemeinschaft war so gesehen durchaus auch Ausdruck eines anderen Verhältnisses zur Macht. Harry Nutt
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