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WühltischDer Jackpot als Potlatsch

■ Kommt ohne äußere Reize aus, ist also Antikonsument: der Lottospieler

Vom Käufer eines Shampoos nimmt man gewöhnlich an, daß er oder andere die erstandene Ware zum Waschen der Haare und der Kopfhaut verwenden. Im Lehrgebäude der herkömmlichen Haushaltstheorie gilt der Kauf eines Shampoos, also Geld gegen Ware, als Kaufentscheidung vollkommener Sicherheit. Auch wenn man das Shampoo zum Schuheputzen verwendet, gilt: „Was man hat, hat man.“

Ungefähr doppelt soviel wie für Shampoos, Sprays und Lotionen, nämlich zirka 30 Milliarden Mark, gaben die Deutschen 1995 für eine Ware aus, der man einiges nachsagen kann, nur nicht Sicherheit. Die Rede ist vom Glücksspiel im allgemeinen und vom Lottoschein im besonderen, für den im legendären Jackpotjahr 1994 knapp neun Milliarden Mark eingezahlt wurden. Die Deutschen spielen und tippen so versessen wie die Briten, die sich seit einiger Zeit sogar, sehr zum Leidwesen der örtlichen Buchmacher, am Lottospiel teutonischer Prägung erfreuen. Den Zocker denkt man sich gern als verwegenen Hasardeur, der nicht vor dem Einsatz des Letzten zurückschreckt, unrasiert und mit zusammengekniffenen Augen. Den Spieler dieses Typs mag es geben, aber sein Anteil an den Umsätzen der Glücksspielbranche ist gering.

Der Konsument der Ware Lottoschein ist von anderer Statur. Bei der Scheinabgabe drängelt er nicht, und seine unter Unsicherheit getroffene Haushaltsentscheidung findet im Rahmen des Ladenschlußgesetzes statt. Als typischen Glückssucher per Lottoschein assoziiert man den Fahrkartenverkäufer der Deutschen Bundesbahn, der die Privatisierung seines Arbeitgebers mit Skepsis betrachtet und bedauert, daß es in der Welt des Einkaufens immer weniger Klebeheftchen für Rabattmarken gibt. Für den Lottospieler ist kein ästhetischer Schnickschnack kreiert worden. Kein Logo, das signalwirkend leuchtet, keine aufreizende Verpackung, die den Kunden erotisch stimmt. Der lottospielende Freizeitler, das vermuten wir mit Adorno, muß angesichts des bloßen Scheins die Nachbilder des Arbeitsvorganges erfahren, dem er doch auszuweichen suchte. Die Zahlenkästchen vermitteln den spröden Charme einer Steuermitteilung. Das schmucklose Durchschlagpapier, auf dem die Registriernummer aufgedruckt ist, kennt der Berufsmensch in Form des Lieferscheins nur zu gut. Wie nur kann sich der rechnende Wirtschaftsbürger von solch schnödem Schein Woche für Woche verführen lassen?

Der Ursprung allen Glücksspiels ist das exzessive Fest als radikale Umkehrung der bestehenden Verhältnisse für begrenzte Zeit. Der Traum des kleinen Mannes vom großen Gewinn ist nichts als die kollektive Utopie vom Goldenen Zeitalter, das in der Vergangenheit war und in Zukunft sein wird. So sehr Lotto die individuellen, kleinbürgerlichen Phantasien anfeuert, sein Kern ist eine soziale Utopie. Der biedere Zuschnitt des Spiels ist Camouflage und Programm. Das harmlose Kreuzchen impliziert die große Volte. Wenn das Jackpotfieber steigt, steuert die Nation ihrem Potlatsch entgegen. So bezeichnet der Ethnologe die ostentative Verschwendung angesammelter Vorräte in rituellen Festen. Im hemmungslosen Hingeben von Geschenken hofft man auf noch größere Gegengaben, doch die lustvoll erfahrene, exzessive Verausgebung von Gütern und Körperkräften gefährdet immer wieder auch die Gemeinschaft. Man kann sich der Erwiderung des Geschenks nie sicher sein. Bleibt es aus, drohen Hunger und Tod. Die wöchentliche Ziehung der Lottozahlen ist so gesehen eine gezügelte Wiederholung der Potlatscherfahrung. Der Spieler imaginiert die außergewöhnliche Gegengabe. Auf dieses Prinzip setzt er übrigens nicht allein. Kluge Umweltpolitiker haben sich ausgerechnet, daß der fortschreitenden Ausbeutung der Natur ganz gut mit einer Umweltlotterie beizukommen wäre. Der Verschwendung des großen Ganzen setzen sie die kleine wöchentliche entgegen. Von solcher Naivität ist der Lottofreund nicht beseelt. Bei jedem Kreuzchen weiß er, daß die Chancen nicht günstig stehen. Harry Nutt

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