■ Wollt ihr die totale Erklärung? Voilá, hier ist die: Frankfurter Widerrede
Ruckt euch endlich mal am Riemen! Ihr seid schließlich unsere Zukunft, tragt Bärte aus Ziegen und Bretter aus Roll, seid jung geboren und habt nichts dazugelernt, ihr redet Styssi, und durch euch geht kein Ruck. Und ihr anderen! Ihr seid schon alt und unsere Gegenwart, ihr tragt Bärte aus Schnauz und Bretter vorm Kopf und redet nur Blech. Mit euch ist noch viel weniger los! Keine Risikobereitschaft, kein Reformwille, kein Ruck – nichts. Also alle hergehört! Ihr habt's mitbekommen, habt die Worte vernommen und all die Reden gehört. Diese Reden, ich sag's euch, sind nicht länger mehr Silber, sondern ab sofort nur noch Gold. Wer jetzt keine hält, den hört keiner mehr.
Erst am Samstag war's, da platzte dem „hartnäckig bohrenden Bundespräsidenten“ (R. Augstein) in Berlin der Geduldskragen, und befeuert durch Applaus und einige Gläschen Adlon-Hausmarke grummelte und wauwaute der Herzog aller Deutschen in einem flugs bestuhlten Nebenzimmer des ebenso flugs wiederaufgedonnerten Adlon-Hotels eine „eigentümlich voluntativ gestimmte Rede“ (FAZ) uns ins Stammhirn, die alle anderen Berliner Reden von Reuter bis Reagan, von Goebbels bis Gennedy weit hinter sich ließ.
„Was ist los mit unserem Land?“ bohrte hartnäckig der Mann und forderte namentlich einen „Ruck“, der wieder durchs Land und durch alle gehen müsse. Ein Jahrtausendgedanke! Gesprochen zu historischer Stunde zum exakt siebenundsiebzigsten Jahrestag der Erfindung Groß-Berlins. Eine Schnapszahl! Was für ein Anlaß zur gefälligen Verklappung historischer Schnapsideen!
Entsprechend begeistert war auch die anwesende Zuhörerschaft – so weit Leute wie E. Diepgen und H. Juhnke Anwesenheit im landläufigen Sinne überhaupt noch möglich ist. Wer folgen konnte, war jedenfalls vor Begeisterung aus dem Häuschen und ließ vor Freude flott ein Achtel Wasser.
Aber schönreden tun jetzt alle. Die Tinte unter der „Erfurter Erklärung“ (Jens, Zwerenz, u.v.a.) ist noch tränenfeucht, die Erinnerung an die seinerzeit gut besuchte Sportpalastrede noch nicht verblaßt, da wartet zeitgleich auch noch W. Schäuble im FAZ-Magazin mit selbstgeschmierten Durchhalteparolen auf. In einer Brandrede zäh wie Leder und dumm wie Windhund („Das Wurzelwerk kräftigen“) versucht der Jünger Jüngers, „die Menschen im Inneren zu ergreifen“ und die Jugend eisern zu formen. Denn: „Die jungen Menschen dürfen nicht unterfordert werden!“
Nun zieht auch mich die neue Zeit, und jetzt geht's los. Heute abend, jawohl, hic haec hoc et nunc, wird in Deutschland, genauer: in Frankfurt schon wieder Historisches geschehn. Am Vorabend des Kampftages der Arbeiterklasse, genau fünf vor zwölf und 77 Jahre vor dem völligen Erkalten der Sonne, wird im wiederaufgeschlossenen großen Festsaal der Restauration „Horizont“ zu Frankfurt am Main, im Beisein und in Anwesenheit namhafter Frankfurter Mitbürger wie etwa des Frankfurter Dichters Th. Gsella, des Neuen Frankfurter Schülers M. Sonneborn und des Frankfurter Würstchens Ch. Schmidt folgende, von mir selbst ausgedachte und ins Wort gesetzte „Frankfurter Widerrede“ verlesen und verkündet werden. Sie soll mehrere Jahrzehnte, mindestens aber bis morgen 16 Uhr Gültigkeit bewahren und für alle Deutschen außer den doofen Sachsen bindend sein. Ich habe diese „Frankfurter Widerrede“ zum Zwecke der besseren Allgemeinverständlichkeit sorgfältig in Sinnabschnitte unterteilt und diese einen nach dem anderen durchnumeriert. Mehr als elf sind leider nicht drin.
Dokumentation:
Frankfurter Widerrede
1. So geht es nicht weiter.
2. Was soll die Scheiße?
3. Die Alten können sich auch mal am Riemen reißen, die haben das alles doch schließlich mit dem Wurzelwerk aufgesogen!
4. Durch Deutschland muß auch mal wieder ein Zuck gehen!
5. Die SPD, die SPD, die SPDeeee-he-hee!
6. Thomas Gsella soll endlich aufhören, mir „aus Versehen“ ins Bierglas zu aschen!
7. Et kütt wie et kütt.
8. Die Rufnummer hat sich geändert!
9. vergessen
10. vergessen
11. Für alle noch mal das gleiche! Oliver Schmitt
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