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Wolfgang Weber Lärmbühne Gehweg

In unserer Straße, einer schnuckeligen Sackgasse ohne jeden Autoverkehr, wird seit vielen Jahren ein niemals endendes, höchst dramatisches Schauspiel mit dem sperrigen Titel „Gehweg aufreißen und dann wieder zuschütten“ aufgeführt. Die Darsteller tragen alle ähnliche Uniformen, die Zuschauer sind immer die gleichen und der Eintritt ist frei.

Die täglichen Aufführungen beginnen um exakt sieben Uhr, wenn der gewöhnliche Erdenbürger noch im wohlverdienten Tiefschlaf liegt. Ein Presslufthammer eröffnet mit ohrenbetäubendem Lärm das muntere Treiben direkt unter dem Schlafzimmerfenster. Schaut man hinaus, sieht man Tag für Tag jene Szene, die manche für ein Klischee halten werden, die aber wirklich genau so verläuft: Ein Mann im blauen Anton öffnet mit martialischem Gerät aus unerfindlichen Gründen den Gehweg, vier andere stehen schweigend und rauchend um ihn herum.

Geredet wird in dieser Szene nicht, man würde ja ohnehin nichts verstehen. Möchte man als Anwohner wissen, was die Akteure da unten eigentlich treiben, hat man nicht die geringste Chance: Von oben rufen geht nicht, es ist zu laut, nach unten rennen und fragen geht auch nicht, weil die Bauarbeiterdarsteller dann plötzlich wie von Geisterhand verschwunden und unauffindbar sind. Erst wenn man eine Minute später wieder oben aus dem Fenster schaut, geht das lustige Gehwegaufreißspiel lautstark weiter.

Nach etwa einer Stunde kehrt urplötzlich eine fast schon unangenehme Ruhe ein – man hat ständig Angst, dass die Stille nur vorgetäuscht ist und sich alsbald wieder in einen schrecklichen Lärm verwandeln wird. Doch die Männer sind tatsächlich verschwunden.

Rund vier Wochen lang geht das so. Nach ein paar Tagen wacht man als Anwohner vor lauter Angst schon um sechs Uhr auf und zählt die Minuten, bis es unweigerlich wieder sieben wird. Dann nimmt das Martyrium erneut seinen Lauf. Und absolut verlässlich schütten die Männer tagein, tagaus den Graben wieder zu und gehen unbescholten ihrer Wege.

Schließlich kehrt Ruhe ein. Zumindest für zwei bis drei Wochen, denn nun wird das immer gleiche Stück erneut aufgeführt. Stets ab Montag. Verlässlich um sieben Uhr. Das geht nun schon seit Jahren so. Gehweg auf, Gehweg zu, einfach so.

Einzig an den Wochenenden sind die Bauarbeiter – oder sind es doch Schauspieler? – nicht anzutreffen. Doch wer glaubt, wenigstens dann herrsche Ruhe, der irrt. Zumindest an den Samstagen nämlich wird seit Jahren ein anderes und nicht weniger furchteinflößendes Stück aufgeführt. Es heißt „Die tanzenden Schlagbohrer“. Die Akteure nennen sich Hilti, Metabo, Black & Decker oder Bosch und treten am liebsten in der Wohnung über, unter oder neben einem auf. Gern allerdings auch schon mal um sechs Uhr morgens. Aber das ist eine andere laute Geschichte.

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