Wolf Lotter über Transformations-Ökonomie : Interessen lügen nicht
Auch der Wirtschaftsjournalismus muss sich transformieren. Nur wenn wir kapiert haben, wie Wirtschaft funktionieren kann, können wir uns selbst und anderen helfen.
Von WOLF LOTTER
1 Der beste visionsfreie Satz der Weltgeschichte
Wenn es um eine bessere Welt geht, um eine andere Ökonomie, um eine gerechtere Teilhabe, dann haben viele Leute eine Vision, eine Utopie, also etwas, was man gut und gerne übermorgen erledigen kann. Das ist der Grund, warum Transformation nicht funktioniert. Die meisten Leute, die denken, man könnte so viel in dieser Welt eigentlich besser machen, haben gerade heute was anderes vor – Urlaub, Demo und die Nachbarn belehren. Transformation aber ist selber machen, die Arbeit gegen den Klimawandel ebenso wie die Gestaltung einer menschenfreundlichen Wirtschaft, das Verstehen von Zusammenhängen in Technik und Sozialem, das ehrliche, harte Arbeiten an der Veränderung. Das ist nicht sexy, es ist nicht visionär, es ist einfach nur richtig. Daran erinnert ein Satz, der in diesem Jahr sein 175-jähriges Jubiläum feiert, das ist schon ein bisschen was. Dieser Satz wird irrtümlicherweise einer Utopie zugeschrieben, und es ist richtig, dass rund um diesen Satz viel steht, was man echt vergessen kann, wenn man eine andere Wirtschaft will. Das ändert aber nichts daran, dass das der Satz für die Erwachsenen ist, die sich wirklich bemühen, die Probleme dieser Welt anzugehen und sie besser zu machen, nicht nur als Phrase, sondern als klares, pragmatisches Projekt.
»Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.«
Dieser Satz stammt aus dem Kommunistischen Manifest von 1848, geschrieben von Karl Marx und Friedrich Engels, und weil wir heute so oft von kultureller Aneignung reden, ist an dieser Stelle auch festzuhalten, dass Utopisten und Visionäre sich diesen Satz zu eigen gemacht haben, was absurd ist. Er gehört immer und überall nicht den Schwätzern, sondern den Machern, ein Wort wieder, bei dem die meisten moralisch Bessergestellten so aus der Hose springen wie bei Freihandel, Marktwirtschaft und Unternehmertum. Das ist gut so, denn damit kann man falsche Progressive von echten Fortschrittlichen unterscheiden, Meckerer von Problemlösern und Visionäre von denen, die die Welt mit nüchternen Augen ansehen, womit allen besser gedient ist.
2 Schumpeter
Wer immer diffus von einem »System« redet, ist selbst Teil davon und hat längst vergessen, dass alle Veränderung eigenes Engagement braucht, dass Selbstbestimmung ohne Selbstverantwortung nicht läuft. Nichts verändert sich von selbst. Das wussten nicht nur Karl und Friedrich, sondern auch ihr großer Kenner Joseph Schumpeter, der wohl klügste Ökonom des 20. Jahrhunderts, dessen Arbeit alle, die an Transformation interessiert sind, kennen sollten. Schumpeter hat, das ist seine berühmteste Phrase, von der »schöpferischen Zerstörung« des Kreativen, der Innovation, gesprochen. Das ist unmittelbar vom Meistersatz von Marx und Engels abgeleitet. Die schöpferische Zerstörung besteht nicht in einer Revolution, die alles bedenkenlos wegfegt, auch das Eingerostete nicht, sondern das Inventur macht, dass sich also mit nüchternen Augen beispielsweise vor den Industriekapitalismus, den viele bis heute gerade in Deutschland mit »der Wirtschaft« verwechseln, hinstellt und fragt: Was hat das gebracht? Was kann davon bleiben und was soll weg?
Dieser Kapitalismus ist nämlich nicht nur einfach scheiße und neoliberal und Dings, äh keine Ahnung, sondern die materielle Grundlage dafür, dass wir ihn für überhaupt einfach scheiße und neoliberal und Dings, äh keine Ahnung halten können.
Schumpeter wusste das schon am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Damals erschien sein Buch Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, in dem er prophezeite, was heute geschieht. Wohlstand und Konsum sind so selbstverständlich geworden, dass die Leute sich eigentlich nicht mehr dafür interessieren, woher das kommt. Sie fühlen sich nicht verantwortlich, was man gleichsetzen kann mit: Sie leben nicht selbstbestimmt. Sie hängen am Tropf von Politik und Staat. Zu viel Kümmern, also die Übernahme aller materiellen Lebensrisiken durch die Politik, sorgt für Verkümmerte, die sich auch nicht mehr um den Sinn und Zweck von Veränderungen scheren, sondern nur noch um die Höhe der staatlichen Zuschüsse. Das wissen wir alle, die wir uns um Transformation bemühen, aber wir sagen nichts, weil man das nicht tut und vielleicht auch denen in die Hände spielen könnte, die wir als unsere Gegner betrachten, die Industriekapitalisten, die ihre Konzerne betreiben und Autos bauen und wollen, dass alles so bleibt wie es ist. Tatsächlich sitzen wir damit alle im selben Boot und sorgen auch noch dafür, dass es nicht untergeht. Die Wirtschaft verändert sich eben nicht dadurch, dass ein paar Leute über sie meckern, sondern dass sie von vielen Leuten anders gemacht wird. Es ist ja nicht so, dass es keine transformationsfähigen Kapitalisten gäbe. Es gibt von ihnen deutlich mehr als transformationsfähige öffentliche Bedienstete zum Beispiel, für die die Politik weit mehr tut als für alle anderen Bevölkerungsgruppen, auch, weil die meisten Politiker Beamte oder öffentlich Bedienstete sind. Das liegt daran, dass nicht transformationsfähige Kapitalisten nicht verbeamtet sind, also pleitegehen können, vorausgesetzt, der Staat hat sie nicht längst in sein Förderprogramm integriert (wer weiß hier noch, was Stamokap bedeutet?) und damit enteiert. Dann sind sie aber auch nicht mehr nützlich, weil sie nur mehr dann innovativ sind, wenn es dafür Garantien gibt, und das führt dazu, dass niemand mehr ein Risiko eingeht, ein Experiment wagt, kurz und gut, dass alles Eingerostete noch eingerosteter wird und das Ständische für die neue Normalität gehalten wird, alles andere also als ein nüchterner Blick auf das, was zu tun ist.
Was zu tun wäre, ist eigentlich klar – nicht nur beim Reden über die sozialökologische Transformation den Takt angeben, sondern auch bei der Transformation zu einem Zivilkapitalismus, was so viel heißt wie: aus einigen wenigen Profiteuren viele Profiteure der Transformation machen. Diese kreative Zerstörung geht an Deutschland vorbei, weil hier die Beziehungen und Lebensstellungen nicht mit nüchternen Augen angesehen werden, sondern blauäugig kurzfristig. Leidenschaft und Romantik sind die Totengräber der Demokratie. Die Leute stellen sich dümmer, als sie sind. Kreative Zerstörung heißt nie, dass die Menschen vergessen, was gut war an dem, was sie haben. In 200 Jahren der industriellen Revolution hat sich der materielle Wohlstand in Westeuropa um das mehr als Vierzigfache angehoben, die Lebenserwartung verdreifacht. Das ist jetzt. Das ist hier, jedenfalls für die meisten. Wer will, dass Transformation gelingt, vor allem auch die sozialökologische, der kann sich seine Angst-Utopien an den Hut stecken. Die meisten Menschen sehen nämlich doch die Welt mit jenen nüchternen Augen, von denen die Jungs 1848 schreiben. Sie nehmen, was geht.
So läuft das. Deshalb muss die Transformation spürbare Vorteile bieten, bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, mehr Freiraum, mehr Selbstbestimmung, ja, und mehr Komfort. Das ist spürbar und funktioniert viel besser als die moralischen Appelle für mehr oder weniger Wachstum, für mehr oder weniger dramatische Folgen, für mehr oder weniger wirtschaftliche Unabhängigkeit. Wer das nicht versteht, dem darf man zu Recht nicht zutrauen, die Klimakrise zu lösen oder die sozialen Fragen, die nicht nur mit ihr verbunden sind. Eine Transformation in eine gerechtere Gesellschaft mit mehr Teilhabe, die nicht nur privilegierte Berufe und Dienstverhältnisse rüberrettet, sondern allen mehr Fairness bietet?
3 Ausnüchterungszelle
Es geht nicht um Wirtschaft, es geht um euer Leben, es geht nicht um Wirtschaftspolitik, es geht um Selbstbestimmung.
Man darf sagen, dass Marx und Engels und Schumpeter ihre Pappenheimer ziemlich genau kannten. Sie ahnten, dass der Mensch nicht von Natur aus gut, sondern eher denkfaul ist, erst recht dann, wenn sich alle Mahlzeiten wie von selbst einstellen. Wer sieht sich, bei allem Gerede, denn eigentlich der Sache verpflichtet, die eigene »Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen« anzusehen, also nicht von sich selbst und seinen Visionen besoffen?
»WIRTSCHAFT, ÖKONOMIE, DARUM MUSSTE SICH IN DEUTSCHLAND NIEMAND KÜMMERN, DAFÜR GAB ES JA EIN MINISTERIUM UND UNTERNEHMEN UND LOBBYS, DIE DAS REGELTEN.«
Wolf Lotter
Tatsächlich ist die Suche nach Antworten das Ergebnis nüchterner Fragen: Welche Instrumente und Methoden brauchen wir, damit die Armen, vornehmlich die Menschen auf der südlichen Erdhalbkugel, eine Alternative dazu haben, entweder an den Folgen des Klimawandels oder materiellem Kahlschlag zu sterben? Was können wir anbieten, welche konkreten Probleme können wir lösen? Als, im März 2023, der deutsche Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck bei seinem Besuch in Brasilien davon sprach, dass der Freihandel, insbesondere das überfällige Mercosur-Freihandelsabkommen, nicht nur ein wichtiges Instrument zur Besserung der materiellen Lage der Menschen in Schwellenländern wäre, sondern eben auch ein gutes Instrument, um auf klimaschädliches Verhalten wie das Zerstören des Regenwaldes einzuwirken, da hob sich jener übliche anschwellende Bocksgesang der Unwissenden und Selbstgerechten. Sie finden übrigens nichts dabei oder wissen es schlicht nicht, dass es der rechtspopulistische Ex-Kanzler Österreichs, Sebastian Kurz, war, der die Verhandlungen mit den lateinamerikanischen Mercosur-Staaten hintertrieben hat. Habecks Vorstoß verbreitete in den etablierten antikapitalistischen Kreisen, die selbstverständlich gegen Globalisierung sind, sofort einen deutlich wahrnehmbaren Schwefelgeruch.
Nun: Habecks Vorstoß ist klug und richtig. Viele Jahre lang haben die Grünen in ihrer großen Mehrheit nichts anderes getan als auf die zahlreichen Irrtümer des Industriekapitalismus reagiert. Sie protestieren gegen Fabriken, Technologien, die Kernkraft und die Rüstungskonzerne, aber ihre eigentliche Tätigkeitsbeschreibung, die Sache mit den Alternativen, war dabei nicht mal Nebensache. Dass es eine so ausgeprägte Neigung gegen alles und alle gibt, die technologische Lösungen im Kampf gegen den Klimawandel und die Armut einfordern, sagt einiges über die Absender aus. Sie müssen nicht.
4 Erbenlogik, Gutsherrenmentalität und Moralisieren
Viele Junge haben geerbt, nicht nur das größte Vermögen, das jemals in Deutschland angehäuft wurde, sondern auch die Moral ihrer Großeltern, die früheren Nazis und die Nachkriegsgeneration auch im Osten, die ihnen die tiefe Skepsis gegen unternehmerisches Handeln als Möglichkeit zur Emanzipation vererbt haben. Unternehmertum ist dynastisch okay, wenn man also weitergibt, was man hat, das ist das deutsche Wirtschaftsbild. Es ist patriarchal im eigentlichen Sinne, leitet sich vom Gutshof und Gutsherrentum ab und hat nichts mit aufgeklärter ökonomischer Selbstbestimmung zu tun. Vor diesem Hintergrund aber wird Wirtschaft gedacht, vor diesem Hintergrund wollen die vermeintlich Woken der Gen Z lieber Lehrer werden und Beamte. Sie wollen dichtmachen, das Land, und sie wollen es sicher haben. Damit setzten sie alles aufs Spiel, nein, sie verlieren es sogar ganz sicher. Die Grünen sind längst zu einer Beamtenpartei geworden, die sich um ökonomisch Selbstbestimmte so wenig schert wie alle anderen. Das gilt im Land, wenn es um Selbstständige geht, das gilt aber auch meistens in der Außenhandelspolitik, wo zwar von »einer Welt« geredet wird, aber eher hypothetisch. Wirtschaftspolitik, die wirklich transformativ ist, geht natürlich über die reine ökologische Transformation hinaus, sie ist gleichsam immer auch eine kulturelle und soziale und ökonomische Transformation.
Nur wenige durchbrechen diese Scheinlogik. Joschka Fischer gehörte und gehört zu ihnen. Der Ex-Sponti ließ sich als Außenminister farbbeuteln, weil er darauf bestand, dass Deutschland – im Jugoslawienkrieg der 1990er-Jahre – sicherheitspolitische und humanitäre Interessen hatte. Er machte sich auch, übrigens mit ganz ähnlichen guten Argumenten wie Vizekanzler Robert Habeck heute, für eine nüchterne Sichtweise auf Märkte, Globalisierung und Ökonomie stark, eben weil dies auch die Voraussetzung auch für soziale und ökologische Transformation ist. Globalisierung, so Fischer, würde uns und denen, mit denen wir global kooperieren, gleichermaßen nutzen.
Wer seine Beziehungen – und Lebensstellung – mit nüchternen Augen ansieht, der kommt auf Schlüsse, die keineswegs eine hohe moralische, dafür eine äußerst realistische Sichtweise ermöglichen, und die die These der vereinigten Biedermeier m/w/d in Deutschland, dass ein Job im öffentlichen Dienst und eine waschechte ökologische Gesinnung reichen müssen, um die Welt und sich selbst zu retten, ein wenig lächerlich wirken lässt. Fischer wusste, dass das Reden von der bösen Globalisierung nur ein Pfeifen im finsteren Wald war. Sie gaben nicht zu, die Globalisierungskritiker, dass es gar nicht um die armen Schwellen- und Entwicklungsländer geht bei ihrer Kritik, sondern natürlich um sie selbst.
»Die Globalisierungskritik«, schrieb Fischer 2008 im Vorwort zu Jagdish Bhagwatis Verteidigung der Globalisierung, »ist zumindest im Westen mittlerweile dort angekommen, wo ihre wahren Ursachen liegen, nämlich bei den Ängsten vor einem wirtschaftlichen und sozialen Abstieg und der Forderung nach der Verteidigung des alten Status quo. Diese Ängste sind durchaus berechtigt, denn in Zukunft wird es in den westlichen Gesellschaften die Selbstverständlichkeit nicht mehr geben, die bislang immer seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegolten hat: dass es jeder neuen Generation besser geht als der Elterngeneration«. Das gilt natürlich auch für Beamte, irgendwann.
An der globalen Wirklichkeit zerschellen also Visionen, Utopien, Illusionen und andere Konstruktionen, die bisher leicht durchgegangen sind, weil sie vom bösen System querfinanziert wurden. Die Stunde der Wahrheit ist gekommen. DAS bedeutet Transformation vor allen Dingen, und DESHALB muss man sich mit Ökonomie und globalen Bedingungen auseinandersetzen. Es ist hier wie auch in der Klimakrise vorbei mit Übung. Es ist ernst. Wer glaubt, er könne die Wirtschaft, das Wissen um ökonomisches Handeln, einfach ausklammern, weil rechnen und kalkulieren irgendwie nicht sein Ding sind, dem ist nichts, gar nichts zuzutrauen, natürlich auch keine entscheidende Rolle in der Problemlösungsarbeit gegen den Klimawandel.
Es geht um Realismus. Nüchternheit.
5 Geschlossene Anstalten
Bis jetzt lief das Spiel so: Interessenverbände der Wirtschaft, vornehmlich der Industrie, redeten mit Interessenverbänden der Politik, vornehmlich Gewerkschaften, hinter verschlossenen Türen. Wirtschaft, Ökonomie, darum musste sich in Deutschland niemand kümmern, dafür gab es ja ein Ministerium und Unternehmen und Lobbys, die das regelten, und haarklein trifft das auch auf alle zu, die dieses lustige Treiben kritisierten und das reine Reagieren auf industrialistische Umtriebe zu ihrem eigenen Geschäftsmodell machten. Wieder mal galt die alte Regel, dass es einträglicher ist, ein Problem zu verwalten, zu bewirtschaften, als es zu lösen. Man kann das schön an der medialen Berichterstattung über Wirtschaft beobachten. Eigentlich sollte sie tun, was auch die Bildungseinrichtungen, die Schulen, die Universitäten und die Politik tun sollen: ein Grundverständnis von Ökonomie vermitteln, dass die und den Einzelnen dazu in die Lage versetzt, weitgehend die wirtschaftlichen Entscheidungen in ihrem Leben selbst zu treffen – ein Zivilkapitalismus also, der nichts anderes ist als ökonomische Emanzipation und gleichsam ein gutes Mittel gegen Manipulation und wirtschaftliche Abhängigkeit.
6 Berichterstattung, Elfenbeinturm--Akrobaten m/w/d
Womit wir nun endlich bei einer gesellschaftlichen Institution angelangt sind, die eigentlich dafür zuständig wäre, diese ökonomische Emanzipation zu befördern, die Medien, den Journalismus. Der hat eine klare Aufgabe, eigentlich: den Menschen jene Informationen an die Hand zu geben, die ihnen ermöglichen, ihr Leben selbst zu gestalten, unabhängig.
Der Journalismus ist, wenn er funktioniert, ein Mechanismus zur Vorbereitung bestmöglicher Entscheidungen. Er schaut nüchtern auf Welt, Klima, Umwelt, Gesellschaft, Soziales, Politik und so viel mehr, was uns umgibt. Er stellt Zusammenhänge her, bietet einen Kontext dafür, dass all diese Dinge nicht einfach nur in der Luft hängen, für sich selbst stehen, keinen Bezug zueinander haben. Für diese Darstellung der nüchternen Beziehungen der Menschen untereinander wie auch ihrer Werke braucht es coole Leute, und die fehlen hinten und vorn. Journalismus ist ein Ismus, und das ist das Problem. Ein Ismus beschreibt ein Glaubenssystem, eine »Lehre«, eine »Ideologie« beziehungsweise eine Weltanschauung, wie uns die Wikipedia erklärt, und zwar »getragen von einem ›Kollektiv von Anhängern‹, die sich als Zeichen der Gruppenzugehörigkeit mental von etwas distanzieren oder sich mit etwas identifizieren«.
Statt eines Instituts zur Herstellung maximaler Entscheidungsfähigkeit aufgrund von Fakten (also Feststellungen, die nach objektiven Standards überprüft werden können) benutzen Ismen, natürlich ganz vorn der Journalismus, Fakten nur insoweit, als sie die eigene Weltanschauung verhökern helfen, also das, was die Kundschaft, die man gerne mit aufgeklärten Leserinnen und Lesern verwechselt, hören will. Wir kennen das als Bubble, aber das sind keine kleinen Luftbläschen mehr, sondern fette, große, hässliche und sehr stabile Blasen, die dem Wasser, auf dem sie schwimmen, die Luft nehmen. Unten fault alles. Kollektive denken immer nach innen, sie bestätigen sich, dass ist ihre Aufgabe, Erhalt ist ihr Ziel, nicht Lernen und Verbesserung. Und wer noch nicht der eigenen Bubble angehört, muss eingenordet werden oder zum Schweigen gebracht. Ignorieren genügt nicht mehr. Alle anderen sind die, die erzogen werden müssen, auf Kurs gebracht.
Das ist das eigentliche Problem, und es gilt, auch wenn das nicht angenehm ist, in alle Richtungen.
Nun sind zwischen 70 bis 80 Prozent überwiegend im linksliberalen und grünen Milieu zu Hause. Das heißt, so sagt der Leipziger Medienwissenschaftler Christian Hoffmann, aber noch lange nicht, dass sie nur linke Themen nach vorn schieben. Die Sicht bleibt trotzdem eingeschränkt. Das gilt auch für Wirtschaftsjournalisten, die keineswegs mehr zu jenen Hofberichterstattern der Banken und Finanzleute gehören, Ausnahmen bestätigen da nur die Regel, und auch ihre alte Rolle als Lobhudler vom Dienst für erfolgreiche Wirtschaftspromis nur mehr sehr gelegentlich erfüllen. Stories über Missmanagement werden gerne genommen, schon lange, aber noch beliebter ist es, solche Geschichten mit kleinen, nicht weiter vertieften Schlenkern zum »System« auszuführen. Der Teufel braucht dabei nicht genau beschrieben werden, es genügt eine Andeutung, wofür es eben genau diese Begriffe gibt: »System«, »Profitgier«, »Kapitalismus«, »Neoliberalismus«. Die Kundschaft weiß dann schon, was sie zu wissen hat.
Die Idee, dass den Leuten Wirtschaft so vermittelt wird, dass sie nicht nur abkotzen können, sondern selber was ändern, ist dem JournalISMUS heute weitgehend fremd.
Das klappt auch deshalb gut, weil die Beschriebenen, die Wirtschaftsleute, der alte bundesrepublikanische Unternehmeradel und die Konzernmanager, ohnehin nie viel über ihr Geschäft zu reden wussten und an der Erzählung der Zusammenhänge ihrer Geschäfte wenig Interesse hatten. Die alten Wirtschaftsjournalisten hatten keine Lust, es sich mit ihrer Kundschaft zu verderben. Die neuen Wirtschaftsjournalisten tun das auch nicht.
Gesinnung und Ismen ersetzen aber keine Handlungsfähigkeit. Der Jubel hat nur sein Gewand gewechselt. Heute ist alles öko, nachhaltig, transformativ und achtsam, dass es nur so wackelt. All das ist in der Regel billige, opportunistische Gesinnungsschreiberei, die sich einfach machen lässt, weil sie eine Klientel bedient, die da mitmacht. Alle haben ihre Lektion gelernt, zumindest was den Neusprech angeht. Es findet sich eh kein Unternehmen mehr, dass nicht die ganze Palette der sozialökologischen Sprache nutzt, ohne dass dabei irgendwo wirklich nachgefragt wird, was das bedeutet. Der Politik genügt das, viel anders macht sie es ja auch nicht. Reden ist Gold. Nach dem Greenwashing kommt das Changewashing.
Der Preis dafür ist enorm.
»DER JOURNALISMUS MUSS WIEDER ›EIER‹ KRIEGEN, DEN MUT, AUCH DEN EIGENEN LEUTEN DIE UNANGENEHMEN WAHRHEITEN ZU SAGEN, DERETWEGEN IHR VERSUCH SCHEITERT, SOZIAL UND ÖKOLOGISCH ZU TRANSFORMIEREN.«
Wolf Lotter
Froh macht das nur die Jubelperser m /w /d auf Twitter und LinkedIn, die zu einer Art TÜV für sozialen Autismus und geschlossene Anstalten geworden sind. Den weitaus größeren Teil der Gesellschaft stößt die Parteilichkeit ab. Sie würden ja sicher gerne wissen, was der Sinn hinter dem Einbaustopp von Gas- und Ölheizungen ist, sie würden gerne verstehen, wie man ein E-Auto-Netz vorankriegt, bei dem auch Berufspendler eine Chance haben, sie würden sich vielleicht über eine Presse freuen, die nicht lakonisch das Komplettversagen einer überdies sündteuren öffentlichen Verkehrsinfrastruktur beklagt, sondern kompetent Forderungen erhebt und Aufklärung betreibt, jenseits auch der verbreiteten Öko-Verschwörungstheorien, dass am Scheißzustand der Bahn nur der »Börsengang«, der nie stattgefunden hat, schuld ist (100 Prozent der Bahn gehören immer noch dem Staat). Fakenews sind auch dann Fakenews, wenn sie statt den Interessen der alten Kapitalisten die der Antikapitalisten bedienen.
Der Journalismus (das habe ich auch schon im vergangenen Jahr gefordert) muss wieder »Eier« kriegen, den Mut, auch den eigenen Leuten die unangenehmen Wahrheiten zu sagen, derentwegen ihr Versuch scheitert, sozial und ökologisch zu transformieren. Er muss auffordern zur Bemühung, sich ökonomischer und technologischer Methoden zu bedienen, die uns dabei helfen, uns Erderhitzung und soziales Elend gleichermaßen vom Hals zu halten. Gute Medien sind fortschrittlich in dem Sinne, dass sie die Verbesserung der Welt nicht nur behaupten, sondern nach dem Stand der Dinge auch befördern. Dazu ist es nicht nötig, allen, auch den dümmsten und gefährlichsten Stimmen, den gleichen Platz zu geben, es ist nur erforderlich, die dummen und weniger dummen Stimmen kenntlich zu machen, und zwar nicht in dieser abstoßenden Parteilichkeit, wie sie heute herrscht, sondern in nüchterner Darstellung. Die meisten Menschen sind weder unbelehrbar noch dumm. Erziehungsjournalismus ist immer totalitär, egal, wie sehr er sich in die eigene Propaganda verliebt hat. Wir brauchen einen grundlegenden Personalwechsel, mit Leuten, die lernen und verstehen und das klar erklären können. Keine Kommentatoren ihrer eigenen Befindlichkeit und Opportunisten (einmal reicht?), die gerne von ihresgleichen gemocht werden wollen. Wer als Journalist nur nach seinem Rudel geht, der lügt auch für dieses Rudel und damit immer für die vermeintlich gute Sache, die damit diskreditiert wird und zerstört.
So wenig wie der liebdienerische Wirtschaftsjournalismus von früher dazu beigetragen hat, dass das Bild der Ökonomie das Selbstbewusstsein und die wirtschaftliche Emanzipation der Menschen erweitert hat, ist die neue Bubble in der Lage, das Bewusstsein für die dringend nötige Transformation im Sozialen, Ökologischen, Ökonomischen hinzukriegen. Es ist nicht nur die Ökonomie, es ist auch die Kultur, Dummchen.
7 Interesse
Wie kommt man aus dieser ganzen inzestuösen Besoffenheit zu nüchternen Blicken? Indem wir nicht auf das fokussieren, was uns moralisch, ideologisch oder politisch passt, sondern auf das, was faktisch nachweisbar ist, auf Interessen.
Lange vor Marx und Engels und Schumpeter und Habeck und Fischer gab es im England des 17. Jahrhunderts eine Phrase, die sowohl zum Motto der frühen Aufklärer als auch des frühen Unternehmertums wurde, dass sich allmählich aus der Zwangsjacke des absolutistischen Staates emanzipierte (sehr allmählich): »Interests don’t lie« – »Interessen lügen nicht.« Die feine Doppeldeutigkeit des Satzes – »interests« heißt auf Englisch eben auch Zinsen, also Profite – ist unübersehbar. Eine moralische Außen- und Wirtschaftspolitik (und ein moralisierender Journalismus) passt zu der romantischen deutschen Kulturtradition. Man hält sich für was moralisch Besseres und sagt das der Welt, stets mit erhobenem Zeigefinger. Es führt zur immergleichen Farce, der vorprogrammierten Enttäuschung, wenn die potenziellen Partner in der Welt dann eben nicht auf die Appelle und Maßregelungen hören, sondern gefälligst Lösungen und Vorteile für sich fordern, höchst menschlich, höchst logisch, höchst erwartbar übrigens. Dabei ist es ja nicht so, dass wir nichts zu gewinnen hätten, nichts zu verhandeln, und das ist ja auch eigentlich jedem und jeder klar. Nur man spricht nicht darüber, so wenig wie über Geld. Es ist eine kulturelle Verdrängung, die aus einer vormodernen Welt kommt, in der das Materielle und Menschliche als Widerspruch zum göttlichen Willen gesehen wurden. Dabei geht es nicht darum, unethisch zu handeln, im Gegenteil. Nur wenn die Leute kapiert haben, wie Wirtschaft funktioniert, werden sie sich selbst und anderen helfen können. Nur wenn wir uns eingestehen, dass wir nicht frei sind von Interessen und sie auf den Tisch legen, können wir nützlich sein für diese Welt.
8 Sei kein Jammerlappen
Genau darüber muss man aber reden, so wie es Fischer tat und Habeck jetzt tut. Es ist der Welt egal und bringt uns nichts, wenn wir ständig Ehrenerklärung über unsere moralische Überlegenheit abgeben, die wir nun den Menschen auf diesem Planeten überreichen möchten, und dann die beleidigte Leberwurst spielen, wenn sich regelmäßig und absehbar herausstellt, dass die das gar nicht interessiert. Menschen interessieren sich dafür, was wir mit und für sie tun können. Dazu gehört auch, dass man seine Interessen, die nicht lügen, klarmacht: Was ist Deutschland in der Europäischen Union? Ein Vorreiter für wirtschaftliche Wendepunkte, für Alternativen, für Qualität in der Ökonomie, in der digitalen Wissensgesellschaft oder ein »Haufen Jammerlappen« (wie Schumpeter es vor 90 Jahren sagte), die keine Probleme lösen können, weil sie sich vor der nüchternen Analyse ihrer eigenen Verhältnisse drücken. Es ist eigentlich alles ganz einfach und deshalb so schwer: Wer sich ehrlich macht, macht mit, gestaltet eine Wirtschaft und benennt auch Interessen und Hintergründe, erst mal die eigenen übrigens. Wo alle nur so tun, als ob sie die Welt retten wollten und dabei gar nichts für sich haben wollen, geht die Welt letztlich unter. Also: Was können wir tun, was müssen wir lernen, mit wem müssen wir kooperieren, gegen welche Feinde der Freiheit uns stellen und uns kenntlich machen? Die alte Arbeiterbewegung, von ihren Epigonen längst vergessen, sang im 19. Jahrhundert die Arbeiter-Marseillaise, in der es heißt: »Den Feind, den wir am meisten hassen, das ist der Unverstand der Massen.« Das gilt natürlich auch in einer Welt, in der fast 55 Prozent der jungen Generation studieren, vielleicht noch mehr als in den alten, finsteren Zeiten der Fabriken und schmutzigen und brutalen Quartiere, die wir überwunden haben, in einer Transformation, die der vorausging, die wir jetzt erledigen müssen. Die Interessen verkleideten sich damals noch nicht so. Aber sie sind immer noch da, schauen wir genau hin.
Sie lügen nicht.
WOLF LOTTER ist Essayist, Buchautor und Gründungsmitglied von brand eins, für dass er mehr als zwei Jahrzehnte die Leitessays verfasste. Er schreibt Bücher wie Zusammenhänge (2020) und Zivilkapitalismus (2013). Er ist Kolumnist bei taz FUTURZWEI, profil, wirtschaftswoche und spiegel.de und Podcaster bei Haufe (Trafostation). Er ist Gründungsmitglied von PEN Berlin.
Dieser Beitrag ist im Juni 2023 in unserem Magazin taz FUTURZWEI N°25 erschienen.