"Wo die wilden Kerle wohnen": Kleiner König im Wolfspelz
Spike Jonze hat Maurice Sendaks Bilderbuch "Wo die wilden Kerle wohnen" verfilmt. Erzählt werden die Abenteuer des neun Jahre alten Max, der in ein Fantasiereich aufbricht.
Wenn Hollywood die ganze Familie ansprechen will, dividiert es sie erst mal auseinander. Den Kindern werden lustige Hauptfiguren, Slapstick und einfache Geschichten geboten, die Erwachsenen sollen sich über Anspielungsreichtum und politisch unverfängliche Botschaften freuen. Segmentiere und kassiere, heißt das Erfolgsrezept. Eine der ebenso schönen wie ungewöhnlichen Eigenschaften von Spike Jonzes "Wo die wilden Kerle wohnen" ist dagegen, dass er sein Publikum nicht aufteilt: Er spricht es mit einer Stimme an. Der eines neunjährigen Jungen.
"Wo die wilden Kerle wohnen" ist kein Kinderfilm, sondern ein Film für alle von 6 bis 50. Das liegt zum einen natürlich daran, dass Maurice Sendaks millionenfach verkauftes Bilderbuch bereits 1963 erschienen ist. Heute 40- bis 50-Jährige gehören zur ersten Lesergeneration. Dass sie das Buch nicht vergessen haben, lässt sich etwa auf Youtube bestaunen. Dort kann man dem wohl prominentesten Fan der "wilden Kerle" dabei zusehen, wie er Sendaks Bestseller einer Gruppe von Kindern vorliest: Es ist Barack Obama.
Je eingeschworener die Fangemeinde eines Buchs, desto heikler die Adaption für die große Leinwand. Aber Jonze stand noch vor einer weiteren Herausforderung: Sendaks Original besteht aus nicht einmal zwei Dutzend Seiten, ein durchschnittliches Drehbuch dagegen hat um die 150. "Wie verfilmt man ein Gedicht?", fasste der Regisseur das Problem, vor dem er stand, zusammen.
Obwohl er und sein Ko-Drehbuchautor Dave Eggers einiges hinzuerfinden mussten, überrascht, wie wenig Grundlegendes der Film dem Buch hinzufügt. Es ist immer noch die Geschichte vom kleinen Max, der nur Unfug im Kopf hat und nach einem Streit mit seiner Mutter in eine Fantasiewelt flüchtet. Dort wohnen die wilden Kerle, riesige Ungeheuer mit zotteligen Pelzen, furchterregenden Hörnern und spitzen Zähnen. Doch Max kann sich die Unholde untertan machen. Er tollt mit ihnen durch den Wald, klettert in die Bäume und heult den Mond an. Bis er Heimweh bekommt und sein Fantasiereich wieder Richtung Realität verlässt.
Behutsam erweitert die Verfilmung die Rahmengeschichte. Max Mutter, die im Buch nicht direkt auftaucht, muss im Film alleine zwei Kinder großziehen. Max Schwester interessiert sich allerdings nicht allzu sehr für ihren kleineren Bruder - in der Pubertät hat man andere Prioritäten. Auch Mom kann sich nicht immer um Max kümmern: Sie muss schließlich arbeiten, um die Kinder durchzubringen. Als sie an einem Abend Besuch von einem Mann hat, kommt es zum großen Streit. Max beißt seine Mutter und haut von zuhause ab.
Schon in diesen frühen Szenen wechselt Jonze zwischen energiegeladener Direktheit und intimen Momenten. Die Kamera folgt Max atemlos Treppen hinunter und schlüpft mit ihm in einen selbstgebauten Iglu; sie liegt aber auch träge mit ihm unter dem Schreibtisch seiner Mutter, während er ihr bei der Arbeit an der Strumpfhose zupft. Der Rhythmus des Films passt sich ganz dem Erleben eines Neunjährigen an: Auf hyperaktive, euphorische Phasen folgen immer wieder Ermüdung und Melancholie.
Diese Geschwindigkeitswechsel werden im Land der wilden Kerle beibehalten. Das Fantasiereich spiegelt in vielen Details - wenn auch verzerrt oder indirekt - Max reales Leben. Im Buch können die Monster nicht sprechen und haben keine individuellen Charakterzüge, im Film werden sie deutlicher zu Manifestationen von Max Wünschen, Ängsten und emotionalen Wunden. Carol etwa mit seinen rissigen Hörnern und der immer roten Trinkernase ist eine Art Ersatzvaterfigur, dessen problematische Beziehung zu KW - lässt sich vermuten - Parallelen zu der von Max Eltern hat. Eine Schneeballschlacht vom Beginn wird im Land der wilden Kerle als Dreckklumpenschlacht wieder neu ausgefochten; eine Schulstunde, in der Max Lehrer vom Sterben der Sonne spricht, taucht in anderer Form wieder in einem Gespräch mit Carol auf.
Aber solche Psychologisierungen und Deutungsversuche erfassen den Kern von Jonzes Film nicht. Das Einzigartige an ihm ist, wie er die anarchische Energie eines hyperaktiven Neunjährigen im Kinosaal physisch erlebbar macht - daher konnten die Monster auch nur von riesigen Puppen dargestellt werden und nicht virtuell im Computer entstehen. Den Film völlig aus der Perspektive von Max zu erzählen, erlaubt, an der befreienden Verantwortungslosigkeit teilzuhaben, die nur Kindern erlaubt ist. Da wird hemmungslos dem Spaß gefrönt, Dinge kaputtzumachen, da wird wild geheult statt kultiviert gesprochen oder zusammen auf einem Haufen geschlafen statt gesittet im Bett. Anders gesagt: "Wo die wilden Kerle wohnen" ist wie eine poetische Fantasy-Version von Jonzes frühen Skater-Videos oder von "Jackass", der MTV-Serie, die er mit erfunden hat.
Der Film ist dabei weit entfernt von jedweder "Kinder an die Macht"-Romantik. Denn so niedlich Max auch in seinem Wolfskostüm mit den spitzen Ohren sein mag, "Wo die wilden Kerle wohnen" lässt keinen Zweifel daran: Neunjährige können verdammt anstrengend sein.
"Wo die wilden Kerle wohnen". Regie: Spike Jonze. Mit Max Records, Catherine Keener u. a. USA 2008, 101 Min.
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