■ Wird Polens Abtreibungsgesetz wieder liberalisiert?: Memmingen in Polen
Warschau (taz) – Vor fast genau einem Jahr verabschiedete Polens damals noch von Konservativen und Christnationalen beherrschtes Parlament seinen umstrittenen Abtreibungskompromiß: Abtreibungen wurden nicht grundsätzlich unmöglich gemacht, doch die soziale Indikation blieb ausgeklammert. Es kam, wie es kommen mußte: Die Zahl der Abtreibungen ging zwar in der Statistik zurück, ob auch in der Wirklichkeit, kann indessen keiner genau feststellen. Denn seither fahren abtreibungswillige Polinnen in gecharterten Bussen nach Kaliningrad, Grodno, Lwow, Wilna oder Brest, wo Abtreibungen auch aus sozialen Gründen weiterhin legal und noch dazu viel billiger sind als in Polen. Eine rechtliche Möglichkeit, auch nur gegen die Reiseveranstalter, die mit „Abtreibungsreisen“ ins Ausland werben, vorzugehen, haben die Staatsanwälte in Polen noch nicht gefunden. Nach dem vor einem Jahr verabschiedeten Gesetz können Frauen, die im Ausland abtreiben, ohnehin nicht bestraft werden.
Nach bisherigen Analysen der Folgen der neuen Gesetzgebung hat diese immerhin auch zu einem positiven Effekt geführt: Die Nachfrage nach Verhütungsmitteln hat sich seither vervielfacht. Bis vor einem Jahr galt in Polen nämlich Abtreibung bei vielen Frauen als das einfachste Verhütungsmittel – ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit. Die Trendwende in Sachen Verhütungsmittel ist allerdings auf die Städte beschränkt – auf dem Land ist es häufig nicht leicht, Verhütungsmittel zu erwerben. Unbemerkt von den zahlreichen Lebensschützergruppen, hat die neue Gesetzgebung dagegen auch zu einem drastischen Anstieg von Fehlgeburten geführt. Dabei handelt es sich nach dem Eingeständnis vieler Gynäkologen jedoch um ein rein statistisches Wunder: Liegt eine soziale Indikation vor, nehmen viele polnische Gynäkologen trotzdem eine Abtreibung vor, tragen aber in die Papiere ein, es habe sich um eine Fehlgeburt gehandelt.
Zuletzt sprach darüber vor laufender Kamera der Direktor des Lodzscher Instituts für Gynäkologie und Geburtshilfe, Prof. Waclaw Dec, ein in Polen angesehener Gynäkologe. „Wenn zu uns eine Frau kommt, die fünf Kinder hat, deren Mann Alkoholiker ist, und das sechste ist Kind unterwegs, machen wir eine Abtreibung und schreiben in die Krankenkartei etwas anderes“, erklärte er. Nach eigener Aussage wollte er damit nur öffentlich machen, was unter Eingeweihten schon lange kein Geheimnis mehr ist: daß weiterhin abgetrieben wird, nur eben heimlich. Nicht sagen wollte er damit, daß er selbst zu solchen Praktiken Zuflucht nehme: „Ich selbst bin gegen Abtreibungen und nehme selbst auch keine vor.“ Das sagte er, nachdem die Standesorganisation der polnischen Ärzte ihn des Bruchs der ärztlichen Ethik bezichtigt und ein Ermittlungsverfahren wegen illegaler Abtreibung und Dokumentenfälschung gegen ihn angezettelt hatte. Prof. Tadeusz Chrusciel, Vorsitzender der Standesorganisation, forderte von der Lodzscher Medizinischen Akademie dessen Entlassung.
Polens Ärztekammer hat indessen nicht nur ein gestörtes Verhältnis zu ihren Mitgliedern, sondern auch zum Gesetz als solchem. Lange bevor die soziale Indikation verboten wurde, hatte sie in ihren „Ärztekodex“ ein generelles Abtreibungsverbot geschrieben. Nach dem damals gültigen Gesetz waren Ärzte an staatlichen Kliniken somit verpflichtet, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen. Nach dem „Ärztekodex“ drohte ihnen dafür der Entzug der Ärztelizenz und damit Berufsverbot.
Unter Chrusciel entwickelte sich die Ärztekammer zum Tummelplatz abgehalfterter rechtslastiger Parteipolitiker. Viele Ärzte zucken nur noch verächtlich mit den Schultern, wenn sie auf „ihre“ Vertretung angesprochen werden. Auf der letzten Hauptversammlung Ende letzten Jahres änderten die Delegierten schließlich ihren Kodex: Seither bleibt es dem Gewissen des Arztes überlassen, wie er der Verpflichtung, Leben zu schützen, nachkommt. Chrusciel dagegen wurde durch einen jüngeren, pragmatischeren Arzt als Vorsitzender abgelöst.
Daß aus Lodz langsam eine Art polnisches Memmingen zu werden droht, hängt mit der großen Frauenarbeitslosigkeit in dieser Hochburg der Textilindustrie zusammen und mit der Tatsache, daß die Stadt zugleich auch eine Hochburg der polnischen Christnationalen ist, die von jeher Arm in Arm mit der katholischen Kirche Abtreibungen in jeder Form bekämpfen. Der jüngste Vorfall um den Lodzscher Professor dagegen ist Wasser auf die Mühle jener Abgeordneter der regierenden Koalition, die eine sofortige Novellierung der Abtreibungsgesetzgebung fordern. Blockiert wird das zur Zeit noch von der ebenfalls regierenden Bauernpartei, die eine Annäherung an die Kirche sucht. Für den linken Flügel der Sozialdemokraten und die parteienübergreifende Frauenfraktion dagegen gilt es nun, die neuen Mehrheitsverhältnisse im Parlament zu nutzen und die soziale Indikation wieder zu legalisieren. Klaus Bachmann
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