Wir lassen lesen: Von Spiez nach München
■ Die Triumphfahrt der Weltmeister von 1954 im Sonderzug
Die Zeiten sind anders, doch so anders nicht. Als die Fußballauswahl der BRD im Juli 1954 das ungarische Dream Team um Ferenc Puskas mit 3:2 besiegt hatte, spielten hierzulande, wo man gerade mit dem Wiederaufbau West beschäftigt war, viele verrückt. Entlang der Bahnstrecke von Spiez in der Schweiz bis nach München warteten Hunderttausende, um die Überraschungsweltmeister zu feiern. Der Singener Historiker Alfred Georg Frei hat 40 Jahre danach die Stationen dieser Reise durch die Schweiz und Süddeutschland in Wort und Bild aufgezeichnet. Der „Fußballbanause“ (Frei über Frei), dem es vor allem um das „Phänomen des Wirtschaftswunders“ geht, malt auch ein Bild der letzten „Amateure“ vor dem Einbruch des Professionalismus in die Idylle der deutschen Oberligen.
Schon damals drängten sich DFB-Funktionäre nach vorne, der omnipräsente Hans Huber schwenkte ausdauernd den „Coupe Jules Rimet“ und degradierte Fritz Walter zum Blumenstraußhalter. Für die „Helden von Bern“ wurde ihr Coup gegen die Zauberer aus der Pußta zum Beginn ihres eigenen sozialen Aufstiegs. Aus dem Sparkassenangestellten Fritz Walter wurde bald der stolze Besitzer eines vollautomatischen Waschsalons, später des Kinos „Universum“. Horst Eckel avancierte vom Arbeiter bei Pfaff zum Sportlehrer an der Realschule von Kusel. Der damals Jüngste in der Elf besitzt heute noch eine Deckenleuchte, die ihm an einer Bahnstation überreicht worden war. Den Goggomobil-Motorroller aus dem Glas-Werk in Dingolfing hat er schon lange entsorgt.
In Jestetten, einer Enklave des Kantons Schaffhausen, sollte der Zug, ein VT 03, nicht halten. Da drohten in einer anarchistischen Anwandlung die Spieler des örtlichen SV, sich auf die Gleise zu setzen. Eckel schüttelt heute noch den Kopf ob dieser Androhung des ersten Sit-ins in der jungen Nachkriegspolitik.
Fußballvereine, Trachtengruppen, Spielmannszüge, Kleingärtner, Schulklassen und ganze Belegschaften waren unterwegs, um einen Blick auf die Fußballer zu erhaschen. In einem Waggon wurden die Präsente gesammelt. Alles geriet durcheinander. Maggi-Mädchen in ihren blütenweißen Arbeitskleidern brachten überdimensionale Suppenwürfel zum Bahnsteig, in Singen waren „Festdamenführer mit Ehrenjungfrauen“ zugange. Zu den Maggiwürfeln gesellten sich Blumen, Wein, Torten, Pralinen, Tischdecken und Unterhosen.
Das „Fest der kleinen Leute“ läutete überdies den Siegeszug des Fernsehers für den privaten Gebrauch ein. Während der WM drängelten sich die Menschen vor den Schaufenstern der Einzelhändler, versammelten sich kollektiv in Gaststätten und prügelten sich um die letzten auf dem Markt befindlichen Geräte. Fortan wollte jeder seine eigene Glotze haben.
In Kaiserslautern, dessen 1. FC mit Fritz und Ottmar Walter, Werner Liebrich, Horst Eckel und Werner Kohlmeyer gleich fünf Weltmeister stellte, geriet der Empfang zum schier südländischen Spektakel. 100.000, mehr als die Stadt damals Einwohner hatte, pflegten das Bonmot, die WM hätten die ersatzgeschwächten Roten Teufel vom Betzenberg gewonnen. Wie greifbar nahe die Stars waren, bewies ein Transparent für Ottmar Walter, der eine Zapfsäule besaß: „Willst du unserem Ottmar danken, mußt du fleißig bei ihm tanken.“ Doch schon damals war Weltmeister nicht gleich Weltmeister. Die elf aus dem Endspiel bekamen alle einen Fernseher im Schrank, der Rest mußte mit einem Tischgerät zufrieden sein. Heinrich Kwiatkowski, der arme Tropf, dem die Ungarn in der Vorrunde gleich acht Tore ins Netz geschossen hatten, traute sich gar nicht nach Hause. Auch heute noch spricht Fritz Walter meist nur von denen, die wirklich dabei waren. Der „Geist von Spiez“ reichte eben auch nicht für alle. Günter Rohrbacher-List
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