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Archiv-Artikel

Wilder Tintenfischfresser

Einmal quer durch die Mythologie des koreanischen Kinos, das extrem ist wie kein anderes in Asien: Park Chan-wook zeigt in „Old Boy“, wie ein Mann, der fünfzehn Jahre lang in einer Wohnung eingesperrt war, auf der Suche nach seiner Geschichte ist

VON BERT REBHANDL

Die Geschichte des Mannes, der da mit wirrem Haar an einer Bar sitzt, würde niemand glauben: Oh Dae-su war fünfzehn Jahre in einer Wohnung eingesperrt. Er konnte im Fernseher verfolgen, was draußen vor der Tür los war. Aber er hatte keine Ahnung, was man mit ihm vorhatte. Wer hatte ihn gekidnappt? Wer pumpte einmal pro Woche das Betäubungsgas in die Wohnung, wusch ihn, füllte den Kühlschrank und überließ ihn dann wieder seine Einsamkeit? Selbst Oh Dae-sus Befreiung ist noch Teil dieser sadistischen Versuchsanordnung –er hat fünf Tage Zeit, herauszufinden, wofür er die fünfzehn Jahre abzusitzen hatte, für die kein Gericht jemals ein Urteil gefällt hat. Und so sitzt er an der Bar, am Beginn seines zweiten Lebens, ein Ausgesetzter, der seiner Instinkte nicht mehr sicher ist, ein Wilder, der einen lebendigen Tintenfisch in sich hineinstopft.

Oh Dae-su ist der „Old Boy“ in dem gleichnamigen Film des koreanischen Regisseurs Park Chan-wook („Joint Security Area“). Seine Zeitreise führt ihn zurück an die Orte der Jugend, zu den Erfahrungen der ersten Liebe, zu den Zurückweisungen, die sich manche Menschen ein Leben lang merken. Vor allem aber führt Oh Dae-sus Suche quer durch die Mythologie des koreanischen Kinos, das extrem ist wie kein anderes in Asien. Zwar liegt der Geschichte ein japanisches Comic zugrunde, es wird von Park Chan-wook jedoch gründlich inkulturiert. Denn vor allem die populäre Kultur Südkoreas kennt gegenwärtig diesen Zusammenhang zwischen hypermodernen Lebenswelten und instabilen Persönlichkeiten: Die Penthouses sind aus Beton gebaut, die Anzüge sind makellos geschnitten und aus den besten Stoffen, die Körper sind durchtrainiert. Hinter dieser Fassade verbergen sich eiskalte Peiniger, für die Gewalt kein Impuls ist, sondern ein Planspiel. Oh Dae-su wird in diese Welt geworfen als ein Verwahrloster. Man sieht ihm an, dass etwas nicht stimmt. Aber er wird damit auch ein Sympathieträger.

Die Kellnerin Mido zieht mit ihm zusammen, trotz seiner Marotten. Seine Nachforschungen aber muss er hauptsächlich allein betreiben. Es ist sein Leben, das den Schlüssel enthält. In seinen Erinnerungen ist das Motiv versteckt, das seinen Gegner umtreibt. Viele Horrorfilme aus Asien haben gegenwärtig diese Struktur der Recherche, die von einem tödlichen Video ausgeht (wie in den „Ring“-Filmen) oder von einem anderen „besetzten“ Ausgangsort. Zuerst kommt immer die Gewalt, im Lauf des Films bekommt sie eine Ätiologie. Am Anfang steht ein schillerndes Bild, in dem Symbiose und Ablehnung ineinander übergehen – die Sexualität findet ihren Kontext nicht, die Neurotiker infizieren dann das Leben der Glücklichen. Oh Dae-su muss alle diese Puzzleteile zusammensetzen, in einer Reihe haarsträubender Gewaltakte, in denen Park Chan-wook sein ganzes grafisches Talent beweist. Nicht die glatten Oberflächen der digitalen Welt stehen bei ihm im Zentrum, er liebt die alte industrielle Ästhetik. Bereits in seinem Vorgängerfilm „Sympathy for Mr. Vengeance“ hat er ausgeklügelte Foltersequenzen entworfen, in leeren Fabriketagen, mit den Geräten einer metallurgischen Arbeitswelt. Auch in „Old Boy“ dominieren die Materialien jener Ökonomie, aus der „Old Boy“ vor fünfzehn Jahren entfernt wurde: Es ist die vorelektronische Welt, in der Südkorea seinen ersten Wirtschaftsaufschwung nach dem Krieg vollbrachte.

Die Welt, in der Oh Dae-su auftaucht, hat sich vor allem technologisch gewandelt – zum Vorteil seiner Gegner, die ausgeklügelte Überwachungsmittel gegen ihn einsetzen. Oh Dae-su steht dagegen auf. Nach fünfzehn Jahren in einer abgeschotteten Zelle sucht er nach jener Unmittelbarkeit, die er verloren hatte. Deswegen frisst er den Tintenfisch in sich hinein. Und macht sich dann auf die Suche nach einer Geschichte.

„Old Boy“. Regie: Park Chan-wook. Mit Choe Min-shik u. a. Südkorea 2004, 118 Minuten